Wustrow: Die Verbotene Insel im Dornröschenschlaf

Rerik, Mecklenburg-Vorpommern. Nur wenige hundert Meter hinter dem idyllischen Urlaubsparadies Rerik, malerisch zwischen Salzhaff und Ostsee gelegen, verbirgt sich eine Halbinsel voller Geheimnisse und Gefahren: Wustrow. Seit über 30 Jahren unbewohnt, ist sie ein gefährliches Sperrgebiet und eine Geisterstadt mitten in Deutschland. Doch warum bleibt diese wunderschöne Halbinsel, die einst als „Leben wie im Paradies“ beschrieben wurde, unbebaut, und welche düsteren Geheimnisse birgt sie?

Eine militärische Vergangenheit: Vom Reichsadler zur Roten Armee
Die Geschichte Wustrows ist tief in zwei entscheidende Abschnitte deutscher Geschichte eingebettet. Ein in einem Keller entdeckter Reichsadler, jahrelang hinter Fliesen verborgen, liefert einen unmissverständlichen Hinweis auf die wahre Vergangenheit der Häuser. Ab den 1930er-Jahren befand sich hier die größte Flakschule des Hitlerdeutschlands. Etwa 1500 Soldaten übten hier den Abschuss von Flugzeugen mit Flakgeschützen. Die Häuser dienten als Wohnraum für die Familien der Wehrmachtssoldaten – eine Nazimilitärstadt mit traumhaftem Meerblick, die bereits damals ein Sperrgebiet war. Trotz des militärischen Zwecks wurde das Leben auf Wustrow von den damaligen Bewohnern als paradiesisch empfunden, mit einer eigenen Schule und einem Kindergarten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Sieg über Hitlerdeutschland übernahm die Rote Armee die paradiesische Halbinsel. Die Sowjetsoldaten zerstörten die Nazimilitärbauten, nutzten jedoch die Wohnhäuser und zivilen Gebäude weiter. Für normale DDR-Bürger blieb das Betreten der Insel strikt verboten.

Das sowjetische „Paradies“ und seine Schattenseiten
Von 1945 bis 1993 lebten etwa 4000 sowjetische Soldaten und ihre Familien völlig autark auf Wustrow. Kontakte zur DDR-Bevölkerung gab es kaum. Die russische Militärstadt war umfassend ausgestattet und verfügte über alles Nötige zum Leben: ein Krankenhaus, eine Sporthalle, sogar ein großes Kino, in dem Filme aus der sowjetischen Heimat gezeigt wurden. Hinweise wie Notenblätter in einem Musikzimmer des ehemaligen Kindergartens sowie Schulbücher und Kinderzeichnungen in der Stützpunktschule zeugen vom Leben der russischen Kinder. Soldaten mit höherem Dienstgrad lebten vergleichsweise komfortabel in Drei- oder Vier-Zimmer-Wohnungen, in denen sogar noch Fernseher erhalten sind. Die prächtige Villa des Stützpunktkommandanten, von den Nazis erbaut, ist jedoch heute so zerfallen, dass ein Betreten zu gefährlich wäre.

Für die einfachen russischen Soldaten sah das Leben auf Wustrow allerdings ganz anders aus. Sie waren in Massenunterkünften untergebracht, mit bis zu 100 Mann pro Schlafsaal, meist in Doppel- oder Dreistockbetten, und hatten nur einen kleinen Holzschemel für ihre Kleidung. Trotz riesiger Backöfen und zahlreicher Mehlsäcke in der ehemaligen Stützpunktbäckerei mussten die einfachen Soldaten oft hungern und bettelten auf Ausfahrten regelmäßig bei den Einheimischen nach Brot, Äpfeln und Birnen. Ihre Ernährung wurde durch die Haltung von Schweinen verbessert, deren Nachkommen, die einzigartigen gefleckten „Russenschweine“, noch heute auf der Insel leben.

Wustrow war für viele einfache Soldaten eher ein kleines Gefängnis unter voller Überwachung. Deserteure versuchten, von der Halbinsel zum heutigen Urlaubsort Rerik zu schwimmen, wurden jedoch von Wachtürmen aus scharf beschossen. Eine bemerkenswerte Täuschungsstrategie der Sowjets war der Bau eines „Fake-Flughafentowers“ und das Aufstellen von Flugzeugattrappen ohne Motor, die nachts verschoben wurden, um dem westdeutschen Militär eine größere Militärpräsenz vorzugaukeln. Gerüchten zufolge diente der „Tower“ auch als Saunaclub für höhere Dienstgrade.

Ein gefährliches Erbe: Munition, Müll und Ruinen
Als die russischen Soldaten 1993 samt ihren Familien abzogen, ließen sie vieles zurück. Die Halbinsel ist bis heute tonnenweise mit scharfer und verschossener Munition belastet. Der Grund: Die Russen hatten den Auftrag, die Munition nach Hause zu exportieren, entschieden sich jedoch, diese vor Ort zu vergraben und stattdessen auseinandergenommene Westautos in die Container zu packen. So finden sich heute nicht nur dutzende Hülsen verschossener Flakmunition, sondern auch Autoteile und ein hektarweiter Müllhügel auf der Insel. Da es nie eine Müllabfuhr gab, wurde der Abfall von über 4000 Menschen einfach in die Natur gekippt.

Hinzu kommt die extreme Einsturzgefahr der Gebäude. Decken stürzen ein, Böden drohen einzubrechen, was die Halbinsel zu einem lebensgefährlichen Ort macht. Dies schreckt jedoch leichtsinnige „Lost Place“-Fans nicht ab, die sich illegal auf das Gelände schleichen. Um dies zu verhindern, drehen Sicherheitskräfte wie Norbert regelmäßig Kontrollrunden.

Wächter der Geisterstadt und ihre Zukunft
Einer der wenigen Menschen, die das Sperrgebiet jederzeit betreten dürfen, ist der Inselförster Marius Hein. Er kontrolliert das 10 Quadratkilometer große Gebiet regelmäßig. Als studierter Forstwirt kümmert er sich um vielfältige Aufgaben: das Fällen morscher Bäume, die Überwachung des Wildbestands (inklusive Jagd), die Pflege der Ziegenherde, die den Rasen zwischen den Häusern kurz hält, und die Begleitung von Fernsehteams – Marius ist hier eine Art „Lebensversicherung“.

Die Halbinsel Wustrow, von Marius als seltene savannenartige Landschaft beschrieben, fasziniert auch Investoren. 1998 erwarb der Immobilienunternehmer Ano August Jagdfeld das Gelände mit dem Plan, Teile der historischen Geisterstadt wieder aufzubauen sowie ein Hotel und Wohnungen zu errichten. Doch die Stadt Rerik wehrt sich seit Jahrzehnten gegen diese Pläne, vor allem aus Furcht vor erhöhtem Verkehrsaufkommen, und hat mehrere Bebauungspläne abgewiesen.

So verbleibt die Halbinsel Wustrow in einem Dornröschenschlaf. Müll und Munition bleiben vorerst liegen. Lediglich Spezialeinheiten der Polizei nutzen das Gelände regelmäßig für Übungsszenarien wie Häuserkampf und Geiselnahmen, wobei Sprengstoff und Munition zum Einsatz kommen. Während dieser Übungen ist die Insel komplett für die Öffentlichkeit gesperrt.

Obwohl die aktuelle Situation für viele schade ist, bleibt die Halbinsel Wustrow eine faszinierende Zeitkapsel, die zwei entscheidende Abschnitte deutscher Geschichte bewahrt. Sie ist wie ein uraltes Schiffswrack am Meeresgrund, gefüllt mit verborgenen Schätzen und Gefahren, dessen Geheimnisse langsam an die Oberfläche drängen, während die Zeit über seine rostenden Hüllen hinwegzieht, und dessen Bergung noch aussteht.

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