Stassfurt, DDR. Im August 1982 wurde die beschauliche Kleinstadt Stassfurt in der Nähe von Magdeburg zum Schauplatz eines ambitionierten, aber letztlich katastrophalen Bildungsprojekts: der „Schule der Freundschaft“. 900, später sogar 1200 afrikanische Kinder und Jugendliche, vor allem aus Mosambik und später aus Namibia, sollten hier im Geiste sozialistischer Brüderlichkeit zu Fachkräften ausgebildet werden – ein politisches Prestigeprojekt, das für viele jedoch in einem Albtraum endete.
Ein Traum von Bildung und Solidarität
Die Initiative basierte auf einem Regierungsabkommen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Mosambik. Für die jungen Mosambikaner, die zwischen 10 und 14 Jahre alt waren und als die Besten ihrer Klassen galten, war die Entsendung in die DDR eine einmalige Chance auf eine gute Schulausbildung, die ihnen in ihrer Heimat verwehrt geblieben wäre, wo über 90% der Bevölkerung nicht lesen und schreiben konnten. Paulino Miguel, einer der Schüler, träumte davon, sein Land zu helfen, während Titos Sitoi sich anfangs „wie ein Präsidentensohn“ fühlte.
Hinter den feierlichen Appellen und der gelebten Solidarität standen jedoch handfeste politische und wirtschaftliche Interessen. Die DDR investierte 37 Millionen DDR-Mark in den Internatskomplex, um die künftigen Facharbeiter auszubilden, die später in Mosambik Fabriken finanzieren und günstige Importe von Textilien, Steinkohle und Futtermais sichern sollten.
Alltag der Reglementierung und Kontrolle
Die Realität für die mozambikanischen Schüler in Stassfurt war jedoch fernab eines Präsidentenlebens. Ihr Alltag war extrem straff organisiert: sieben Stunden Unterricht, Hausaufgaben, Arbeitseinsätze und Parteiprogramm ließen kaum Raum für Freizeit. Das Schulgelände durfte zunächst nur unter Aufsicht verlassen werden, und die Schüler wurden ständig kontrolliert und reglementiert. Ehemalige Schüler und Erzieher empfanden diese ständige Kollektivierung als Entmenschlichung, da Jugendliche, die sich in der Pubertät befanden, keine Möglichkeit hatten, sich zurückzuziehen oder eigene Entscheidungen zu treffen.
Noch gravierender war die fehlende Selbstbestimmung bei der Berufswahl. Viele Schüler wurden in Berufe gezwungen, die sie nicht wollten. Franziska Raposo etwa, die Ärztin werden wollte, musste Bekleidungsfacharbeiterin lernen und weinte darüber, weil es nicht das war, was sie sich vorgestellt hatte. Für viele war die Zeit in der DDR eine „verlorene Jugend“, da ihre hohen Erwartungen an eine qualifizierte Ausbildung oft enttäuscht wurden. Kontakte zu den Familien in Mosambik waren meist nur über Briefe möglich, die von der Staatssicherheit überwacht wurden.
Neid, Hass und eine Tragödie
Das Zusammenleben mit der lokalen Bevölkerung gestaltete sich zunehmend schwierig. Trotz offizieller Beteuerungen, dass den Stassfurtern nichts weggenommen würde, entstand Neid und später Hass, weil die mosambikanischen Schüler vermeintlich bevorzugt wurden, etwa bei der Verteilung von knappen Gütern wie modischer Kleidung oder Bananen. Ab Mitte der 1980er Jahre häuften sich die Konflikte zwischen deutschen und afrikanischen Jugendlichen. In Diskotheken sollte eine 50/50-Regelung zur Trennung beitragen, was jedoch oft zu Spannungen führte. Rassistische Beschimpfungen nahmen zu. Die Lage eskalierte im Mai 1987, als 50 bis 80 Jugendliche auf jeder Straßenseite einander gegenüberstanden und eine größere Schlägerei nur durch die Polizei verhindert werden konnte.
Wenige Monate später kam es zu einem tödlichen Vorfall: Bei einem Streit in einer Diskothek wurde Carlos Conessao über ein Brückengeländer gestoßen und stürzte fünf Meter in die Tiefe. Er ertrank in der Bode, während deutsche Jugendliche rassistische Bemerkungen machten und ihm nicht halfen. Offiziell wurde Carlos‘ Tod als tragischer Unfall eines Einzelnen dargestellt, und Rassismus in der DDR wurde nicht offen diskutiert, da dies nicht ins Selbstverständnis des Staates passte. Viele Schüler, die selbst tägliches Mobbing und rassistische Vorfälle erlebten, glaubten dieser Version nicht.
Das namibische Kapitel und das bittere Ende
Ab 1985 wurde das Projekt ausgeweitet: Zusätzlich zogen 300 namibische Kinder, Kinder von SWAPO-Kämpfern, in die Schule der Freundschaft ein. Viele von ihnen waren Waisen oder hatten Gewalt und Misshandlungen in ihrer Heimat miterleben müssen. Lehrer wie Monika Steht bemühten sich, ihnen ein neues Zuhause zu geben und ließen sie „Kind sein“. Die namibischen Kinder, die ihre Lehrerinnen oft liebevoll „Memme“ (Mutter) nannten, besuchten auch deutsche Schulen und verbrachten Sommer in Pionierferienlagern.
Für die mosambikanischen Schüler kam 1988 das abrupte Ende: Die DDR schickte die ausgelernten Lehrlinge zurück in ihre Heimat, obwohl dort ein Bürgerkrieg tobte. Die Regierungen hielten an den Verträgen fest, da die DDR nach außen Solidarität demonstrieren konnte und Mosambik froh war, die Jugendlichen nicht eingliedern und versorgen zu müssen. Viele Schüler wussten durch heimliches Westradio längst über die wahre Lage in ihrer Heimat Bescheid.
Bei ihrer Rückkehr wurden die mosambikanischen Heimkehrer oft direkt in die Armee eingezogen und für ihre Zeit in Deutschland diskriminiert. Ihre in der DDR erworbenen Bildungsabschlüsse wurden von der mosambikanischen Regierung nie anerkannt. Nur ein kleiner Teil der 900 Schüler konnte beruflich Fuß fassen; viele mussten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten und empfanden die Armeezeit als „Hölle“. Franziska Raposo fasst zusammen: „Wir haben unsere Jugend verloren, sie wurde uns gestohlen“.
Auch die namibischen Kinder wurden 1990, als die DDR-Institutionen sich auflösten, plötzlich zurückgeschickt, oft ohne ihre Ausbildung beenden zu können. Für viele war es ein Schock, da sie die DDR als ihre zweite Heimat ansahen. Obwohl der Neuanfang schwierig war und viele Kinder sich von ihren Familien entfremdet hatten, fanden überraschend viele, oft mit Unterstützung deutscher Pflegefamilien, einen guten Weg und sind heute in verschiedenen Berufen erfolgreich.
Ein zwiespältiges Erbe
Die „Schule der Freundschaft“ bleibt ein Projekt mit einem zwiespältigen Erbe. Während einige wie Paulino Miguel die Ausbildung nutzen und heute in der politischen Bildung arbeiten, sehen viele ehemalige mosambikanische Schüler ihre Jugend als gestohlen und ihre beruflichen Chancen als vertan an. Die Regierung habe sie verraten und ihre Ausbildung nie akzeptiert. Es war ein gewagtes Experiment, das nach Ansicht vieler ehemaliger Beteiligter und Forscher unter ideologischem Starrsinn litt und in einer Tragödie für viele der jungen Menschen endete.