Katastrophe am Karfreitag 1993: Das Zugunglück von Berlin-Wannsee

Berlin-Wannsee – Ein sonniger Karfreitag im April 1993 wurde zum Schicksalstag für Hunderte Osterreisende, als ein Sonderzug auf dem Weg nach Berlin frontal mit einem Intercity kollidierte. Drei Menschen kamen ums Leben, 25 wurden schwer verletzt. Die tragische Kollision ereignete sich auf einer Strecke, die eigentlich entlastend für den Osterreiseverkehr dienen sollte.

Am 9. April 1993, einem sonnigen Karfreitag, herrschte auf den Bahnhöfen der Republik reger Osterreiseverkehr. Um die überfüllten Züge zu entlasten, setzte die Bahn Sonderzüge ein. Einer dieser Züge war ein Einsatzzug, der über Magdeburg nach Berlin fuhr und rund 700 Reisende an Bord hatte. Unter ihnen war der 33-jährige Ingenieur Christoph Thiele, der seine Eltern in Berlin besuchen wollte. Er kannte die Strecke, da er sie bereits etliche Male gefahren war.

Zur gleichen Zeit unternahmen Helmut und Elisabeth Anlauf in Berlin-Wannsee, einem beliebten Ausflugsziel, einen Osterspaziergang auf ihrem Lieblingsweg, dem Bürgermeister-Stöbe-Weg. Dieser Weg führt direkt an der Bahnstrecke entlang und bot eine ausgezeichnete Sicht auf den Reise- und S-Bahnverkehr. Das Ehepaar beobachtete gerne die Züge und informierte sich über den Fortschritt der Streckenerneuerung, bei der die Gleisarbeiten bereits abgeschlossen waren und nur noch die Elektrifizierung fehlte.

Das Unheil nimmt seinen Lauf
Während der Intercity mit zehn Waggons aus Berlin sich dem Waldgebiet im Wannsee näherte, hörte das Ehepaar Anlauf gleichzeitig einen Schnellzug aus Richtung Hannover und Magdeburg kommen. Der Abschnitt, an dem sie standen, lag in einer Kurve, und obwohl sie noch keinen Zug sehen konnten, hörten sie beide. Elisabeth Anlauf hörte deutlich den D-Zug, der aus dem Westen kam – jener Zug, in dem auch Christoph Thiele saß.

Im Inneren des entgegenkommenden Zuges blickte Christoph Thiele aus dem Fenster. „Ich guck nach vorne und seh einem Zug entgegenkommt und denk das auf dem Gegengleis und realisier irgendwie irgendwas stimmt da nicht und hoch der ist ja wir sind auf demselben Gleis“, beschreibt Thiele den Moment des Schreckens. Geistesgegenwärtig drückte er auf den Auslöser seiner Kamera, als die beiden Züge aufeinander zufuhren. Ihm gelang das „einmalige Foto“, das die „unausweichliche Katastrophe“ nur wenige Sekunden vor dem Zusammenstoß festhielt.

Elisabeth Anlauf konnte sich im letzten Moment in Sicherheit bringen. „Und dann hab ich gesehen Tatsache die fahnen die fahren auf ein an dem gleichen Gleis und dann dachte ich, dann hat es tatsächlich auch zwei drei mal heftig geholt da waren auf eine Staubentwicklung und der Koffer flog rum und ich auch ich dachte jetzt entgleister Zug und die Waggons fliegen da durch die Gegend und bin in Panik in den Wald gelaufen“, erinnert sie sich.

Frontalaufprall und gespenstische Stille
Die beiden Lokomotiven prallten mit über 70 Kilometern pro Stunde frontal aufeinander und bäumten sich auf. „Dann war Ruhe, dann hat man nichts mehr gehört wirklich Totenstille“, berichtet ein Augenzeuge. Die tonnenschweren Lokomotiven verkeilten sich ineinander. Die ersten beiden Waggons hinter den Loks wurden durch den Aufprall heftig getroffen, einer platzte förmlich auf.

Für die knapp 700 Passagiere endete die Osterreise inmitten des Waldes. Viele standen unter Schock und konnten kaum fassen, was geschehen war. Einige unversehrte Passagiere, darunter Christoph Thiele, begaben sich mit ihrem Gepäck aus den Zügen. Christoph Thiele realisierte, dass er Glück hatte, während weiter vorne im Gleisbett bereits Verletzte lagen.

Umfangreiche Rettungsaktion
Minuten später trafen die ersten Rettungskräfte ein. Obwohl Feiertag war, standen genügend Männer einsatzbereit. Feuerwehrmann Albrecht Broemme übernahm die Einsatzleitung. Das Ausmaß der Unfallstelle, die sich über 440 Meter erstreckte, war anfangs kaum zu überblicken. Die Retter suchten in dem Gewirr aus Stahl und Blech nach Verletzten, die sich nicht selbst befreien konnten. „Es zählt jede Minute“, so ein Retter. Oft blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich mit schwerem Gerät einen Weg zu den Verletzten freizuschneiden.

Die Arbeit war kräftezehrend und unter enormem Zeitdruck. Für die Verletzten im Zug schien die Zeit wie eine Ewigkeit zu vergehen, während sie auf Hilfe warteten. Mittlerweile waren 300 Rettungskräfte vor Ort, darunter der leitende Notarzt Dr. Wenger, dessen Team sich vor allem um die eingeschlossenen Verletzten kümmerte. Verletzte mit Brüchen konnten direkt im Zug versorgt werden, während schwerer Verletzte nach der Erstversorgung direkt in umliegende Krankenhäuser abtransportiert wurden.

Angesichts der Zerstörung wirkte es wie ein Wunder, dass überhaupt Menschen überlebten. Aus einem Waggon und dem Führerstand eines Zuges konnten die Rettungskräfte jedoch nur noch Tote bergen. Eine Frau aus der ersten Klasse des Intercity überlebte den Aufprall nicht. Der Lokführer des Zuges aus Berlin konnte sich durch einen Absprung retten und blieb unverletzt, ebenso der zweite Lokführer.

Auch Stunden nach dem Unglück, gegen 16 Uhr, irrten noch Reisende mit Gepäck am Unfallort umher. Polizeirat Gerfried Lindner und seine Männer durchkämmten das Waldgebiet, das sich über etliche Kilometer erstreckte, um desorientierte Reisende zu finden. Es dauerte bis in die Abendstunden, bis alle gefunden waren.

Die Ursache der Katastrophe
Die Untersuchung ergab, dass das Unglück durch einen Fehler des Fahrdienstleiters vom Bahnhof Wannsee verursacht wurde. Er hatte ein falsches Signal gesetzt und die Weichen falsch gestellt, sodass die beiden Züge auf demselben Gleis fuhren.
Das Foto, das Christoph Thiele kurz vor dem Zusammenstoß machte, zeigt die unweigerliche Katastrophe. Doch für ihn sind die Erinnerungen an das reale Bild stärker als das verblasste Foto selbst. Auch Elisabeth Anlauf quälten die Erinnerungen so lange, dass sie über zehn Jahre lang den Unglücksort mied. Für die Einsatzkräfte dauerte die Arbeit an diesem Osterwochenende noch lange an, um die Gleise freizuräumen.
Insgesamt wurden 25 Passagiere teils schwer verletzt, und drei Menschen kamen bei diesem Unglück ums Leben.