Manuelas Stasi-Akten: Die Enthüllung, die schlimmer war als das Gefängnis

Lisa-Sophie sitzt Manuela in einem hellen Café gegenüber. Die beiden Frauen starren einander an – eine Grenzerfahrung im wahrsten Sinne des Wortes.

„Die Ausreise aus der DDR war mein schönster Tag in meinem Leben“, sagt Manuela mit fester Stimme. Denn in dem Land, in dem sie aufgewachsen ist, wurde sie ständig beobachtet – vom Ministerium für Staatssicherheit, kurz Stasi. Irgendwann wurde ihr klar, dass auch in ihrem direkten Umfeld Spitzel der Stasi sind, die Informationen über sie und ihre Freunde weitergeben. Diese Erkenntnis führte zu einem tiefen Misstrauen, das Manuela bis heute prägt.

Manuela (Name geändert) wächst in Ost-Berlin auf. Ihre Eltern lassen sich früh scheiden, sie lebt bei ihrem Vater, der das SED-Regime offen kritisiert und immer wieder von einem Leben im Westen spricht. Als sie sieben Jahre alt ist, scheitert ihr erster Fluchtversuch über die bundesdeutsche Botschaft an einer Straßensperre. Der Vater wird verhaftet und zu drei Jahren Haft verurteilt, Manuela landet zunächst in einem Heim, später bei der Stiefmutter – und lernt schnell, dass „laut denken verboten“ ist.

Jahre später wagt sie mit einer Freundin den nächsten Ausbruchsversuch, diesmal über die Ostsee. Die beiden Schwimmerinnen treiben knapp einen Kilometer hinaus, als sie von Stasi-Patrouillen­booten aufgegriffen werden. „Vor dem Haftrichter war mein Urteil längst klar“, erinnert sich Manuela. Zwei Jahre und vier Monate Haft – unter anderem wegen „illegaler Republikflucht im schweren Fall“ und „illegaler Nachrichtenübermittlung“.

Im Frauengefängnis Hoheneck, einem der berüchtigtsten Straflager der DDR, erlebt sie die Grausamkeit der „kalten Dusche“: Stundenlang steht sie unter eiskaltem Wasser. In einer Zelle findet sie eine Bibel und wendet sich dem Glauben zu. „Man verliert den Glauben an Menschen. Da braucht man etwas anderes, an das man glauben kann“, sagt sie heute.

„Lisa-Sophie will von Manuela wissen, was ihre Erfahrungen in der DDR mit ihr gemacht haben und welche Auswirkungen sie auf ihr gesamtes Leben haben.“ Ihre Stimme klingt ruhig, fast professionell. Doch hinter dieser Fassade lauert Schmerz: Bis heute lebt Manuela meist allein und vertraut kaum jemandem mehr. Nähe „erstickt“ sie, sagt sie.

Nach 28 Monaten Haft gelangt sie über den sogenannten Freikauf in die Bundesrepublik. Am Tag der Ausreise fällt sie vor Erschöpfung auf die Knie und küsst den Boden des Notaufnahme­lagers Gießen – „der zweit­schönste Tag in meinem Leben“, ergänzt sie. In Regensburg beginnt für sie ein neues Leben, doch die Beziehung zu ihrem Vater bleibt schwierig: Er spricht nie über seine Zeit in der DDR und leugnet jegliches Unrecht.

Erst Jahre später fand sie in ihren Stasi-Akten heraus, dass es ihr eigener Vater war. Der einzige Mensch im Überwachungsstaat der DDR, dem sie vertraut hatte. In rund 1.000 Seiten Dokumenten entdeckt sie seine Verpflichtung zur Zusammenarbeit unter dem Decknamen „Paul“ – er hatte sie und ihre Freunde gegen Geld verraten. „Als hätt jemand mein Herz rausgerissen“, beschreibt sie das Gefühl des Verrats. „Seitdem kann ich eigentlich niemandem mehr vertrauen – mein Glaube an die Menschheit ist verloren.“

Trotz allem hat sie ihm verziehen, nur um selbst leben zu können. Doch die Narben bleiben: Ein Freund, dessen Flucht­pläne der Vater verraten hatte, verstarb im Gefängnis. „Ich vertraue meinem Hund mehr als jedem Menschen“, sagt Manuela heute und streicht über das weiche Fell ihres Retrievers. Ihr Leben ist ein Mahnmal dafür, wie tief Misstrauen wurzeln kann, wenn Verrat und Überwachung den Alltag bestimmen.

Liebe Leser(innen), wir freuen uns immer über Verbesserungsvorschläge, Anregungen oder auch weitere Informationen zu unseren Beiträgen. Sollten Sie rechtliche Bedenken haben, bitten wir Sie, uns ebenso eine kurze Information zukommen zu lassen. Dies ist sowohl anonym als auch personalisiert möglich. Senden Sie uns eine Mail an coolisono@gmail.com. Dankeschön!