Ungleiche Einheit: Warum Ostdeutsche in den Eliten unterrepräsentiert bleiben

Auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands sind die Spitzenpositionen in Politik, Wirtschaft und Justiz weitgehend in westdeutscher Hand. Während Ostdeutsche 19,4 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, sind sie in Führungspositionen stark unterrepräsentiert: In den DAX-Konzernen, der Wissenschaft und der Justiz sind ihre Anteile alarmierend niedrig. Ein strukturelles Problem oder ein natürlicher Entwicklungsprozess?

Die Zahlen sprechen für sich
In der Mittler-„Geschichtsstunde“ skizziert der Historiker und Publizist Kai-Axel Aanderud kurz und prägnant wichtige Ereignisse der jüngsten deutschen Geschichte. In der Folge „Westdeutsche Eliten nach 30 Jahren Einheit“ berichtet er von der auch nach 30 Jahren Deutscher Einheit fortbestehenden westdeutschen Dominanz in den bundesdeutschen Führungspositionen: Während die Ostdeutschen 19,4 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, sind sie in Führungspositionen in Wissenschaft (1,5 Prozent), Justiz (zwei Prozent) und Wirtschaft (4,7 Prozent) dramatisch unterrepräsentiert. Von den 190 DAX-Vorständen stammen vier aus dem Osten. In einer freiheitlich-demokratischen Ordnung sei „grundsätzlich anzustreben, dass sich die Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Gesellschaft in den Führungsgruppen der gesellschaftlichen Teilsysteme angemessen widerspiegeln“, sagt Brandenburgs Ex-Ministerpräsident Matthias Platzeck. „Davon hängt die Identifikation der Bürger mit ihrem Gemeinwesen und dessen gesellschaftliche Akzeptanz ab.“ Einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zufolge betrachten sich 47 Prozent der Bürger in den neuen Bundesländern ausschließlich als Ostdeutsche und lediglich 44 Prozent von ihnen als Angehörige der Gesamtnation – ein Weckruf.

Vier Hauptgründe für die Ungleichheit
Eine aktuelle Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung, der Universität Leipzig und der Hochschule Zittau-Görlitz nennt vier zentrale Ursachen für die anhaltende westdeutsche Dominanz:

  1. Die historische Ausgangslage: Nach der Wende wurden die meisten DDR-Unternehmen durch die Treuhandanstalt an westdeutsche Investoren verkauft. Gleichzeitig gab es in der DDR weniger Akademiker als in der Bundesrepublik, wodurch die Basis für ostdeutsche Führungskräfte schmaler war. Zudem sind viele gut ausgebildete Ostdeutsche in den 1990er Jahren in den Westen abgewandert.
  2. Der Import westdeutscher Führungskräfte: Nach der Wiedervereinigung wurden viele Führungspositionen in den neuen Bundesländern mit Westdeutschen besetzt, die durch ihre Erfahrung mit marktwirtschaftlichen Strukturen bevorzugt wurden. Diese Generation ist erst jetzt im Begriff, ihre Posten zu räumen.
  3. Netzwerke und Seilschaften: Westdeutsche Führungskräfte neigen dazu, ihresgleichen zu befördern – ähnlich wie Männer oft Männer bevorzugen. Die Kriterien für Karrieren sind nach westdeutschen Maßstäben geformt, was Ostdeutsche oft benachteiligt.
  4. Mentalitätsunterschiede: Ostdeutsche gelten als risikoaverser, halten seltener Aktien und gründen weniger Unternehmen. Die Erfahrungen von Unsicherheiten nach der Wende haben eine Mentalität der Sicherheitssuche geprägt, was sich auf Karriereentscheidungen auswirkt.

Gibt es eine Lösung?
Die Unterrepräsentation Ostdeutscher wird zunehmend als Problem wahrgenommen. Laut einer Umfrage betrachten fast drei Viertel der Deutschen die Ungleichheit als politisch und gesellschaftlich problematisch. Die Forderung nach einer stärkeren Einbeziehung Ostdeutscher in Spitzenpositionen wird lauter.

Einige Stimmen plädieren für eine Ost-Quote, um strukturelle Benachteiligungen auszugleichen. Andere setzen auf einen natürlichen Generationswechsel, der mit der Zeit mehr Ostdeutsche in Spitzenpositionen bringen soll. Fest steht: Solange sich Ostdeutsche nicht gleichermaßen in den Eliten widerspiegeln, bleibt die gesellschaftliche Einheit eine Herausforderung.

Die deutsche Einheit ist auf dem Papier vollzogen, doch wirtschaftlich, politisch und kulturell bestehen weiterhin Unterschiede. Während viele hoffen, dass sich diese Schieflage durch natürliche Entwicklungen behebt, wächst der Druck, aktiv gegenzusteuern. Denn eine nachhaltige Einheit bedeutet auch, dass Ostdeutsche in Führungspositionen sichtbar werden – nicht als Ausnahme, sondern als Normalität.