Ein letzter Versuch, den Exodus zu stoppen – Die DDR-Führung im Würgegriff der Wende

Am 10. November 1989 richtete sich die DDR-Führung in einem historischen Fernsehbeitrag des Jugendformats „Elf 99 – Der Jugendnachmittag“ in einer letzten Anstrengung an ihre Bürger. In einer vermeintlich vertrauensvollen Ansprache kündigte der damalige Innenminister Friedrich Dickel radikale Neuerungen an, die dazu dienen sollten, den unaufhaltsamen Strom der Ostdeutschen in den Westen einzudämmen.

Neue Regelungen in turbulenten Zeiten
Mit ruhiger, fast inszenierter Gelassenheit erklärte Dickel, dass ab sofort alle Volkspolizeikreisämter Anträge für Privatreisen – insbesondere in die Bundesrepublik Deutschland und nach West-Berlin – entgegennehmen würden. Ziel dieser Maßnahmen war es, den massenhaften Exodus zu bremsen, der über Monate hinweg das DDR-Regime erschütterte. Die angekündigten Verfahren sollten nicht nur kurzfristig greifen, sondern dauerhaft Teil des neuen Reisegesetzes werden. So sollte das Verfahren der Antragstellung – angeblich auch an Wochenenden möglich – den Bürgern Sicherheit bieten und unüberlegte, spontane Grenzübertritte verhindern.

Inszenierung einer Entspannungspolitik
In der Ansprache betonte Dickel immer wieder die Notwendigkeit von Besonnenheit und Verantwortungsbewusstsein. „Nur so kann sichergestellt werden, dass der grenzüberschreitende Reiseverkehr geordnet abläuft“, so sein Appell. Neben der Einführung vereinfachter Antragsverfahren wurden auch umfangreiche infrastrukturelle Maßnahmen angekündigt: Neue Grenzübergänge an bekannten Berliner Orten wie der Glienicker Brücke, dem Potsdamer Platz oder der Eberswalder Straße sollten – angeblich noch am kommenden Wochenende – in Betrieb gehen. Auch der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, mit zusätzlichen Busverbindungen und der Eröffnung weiterer U-Bahnhöfe, war Teil eines umfassenden Versprechens, die Grenzen nicht nur politisch, sondern auch logistisch neu zu ordnen.

Die bittere Ironie des Wandels
Doch während Dickel in rhetorisch gut einstudierten Phrasen von geordneter Umstellung sprach, war die Realität eine ganz andere. In den Stunden nach dem Fall der Mauer waren die Bürgerinnen und Bürger nicht länger bereit, auf bürokratische Genehmigungen zu warten. Viele nutzten die neu gewonnene Freiheit und überquerten die Grenze – ob für einen kurzen Besuch oder als endgültiger Abschied von der alten DDR. Die angekündigten Maßnahmen wirkten auf den Punkt der Inszenierung reduziert: Eine Art letzte Belehrung, die die Kontrolle über ein längst entgleitendes System zurückgewinnen sollte.

Die Ironie des Moments schärft sich noch im Rückblick: Nur neun Monate zuvor war der junge Ost-Berliner Kellner Chris Gueffroy als letztes Todesopfer an der Berliner Mauer erschossen worden – ein schmerzlicher Beleg für die Brutalität eines Regimes, das zu seinen eigenen Mitteln und Werten stehen musste. Während die Grenzsoldaten für ihre Rolle sogar Auszeichnungen und Prämien erhielten, blieb der Preis für den einfachen Menschen unermesslich hoch.

Ein Zeugnis des Umbruchs
Der Beitrag von „Elf 99 – Der Jugendnachmittag“ dokumentiert mehr als nur die formalen Neuerungen in einem sich auflösenden Staatsapparat. Er ist ein Zeugnis des Umbruchs, in dem offizielle Versprechen, technokratische Maßnahmen und die Realität des Massenexodus aufeinanderprallten. Die Ansprache Friedrich Dickels, die in ihrer nüchternen Rhetorik versuchte, den beginnenden Wandel zu kontrollieren, blieb letztlich ein symbolischer Versuch, den Untergang eines Systems aufzuhalten, das schon längst in die Geschichte eingegangen war.

In diesem Spannungsfeld zwischen Staatsanspruch und gelebter Freiheit manifestiert sich der wahre Kern der Wende: Der Moment, in dem die offizielle Ordnung der DDR nicht mehr in der Lage war, den Drang der Menschen nach Freiheit und Selbstbestimmung zu bändigen – ein Moment, der den Beginn einer neuen Ära markierte.