Wendegeschichten aus Riesa: Erinnerungen einer Zeitzeugin

Riesa im Wandel – die Umbruchszeit Ende der 1980er Jahre war eine Periode tiefgreifender Veränderungen, die das Leben der Menschen grundlegend auf den Kopf stellte. Gabriele Böhme, eine 71-jährige Einwohnerin von Riesa, hat diese Zeit hautnah miterlebt und blickt auf die Jahre des Umbruchs zurück, die sowohl berufliche als auch persönliche Herausforderungen mit sich brachten.

Das Brodeln unter der Decke
Gabriele Böhme lebt heute in einer angenehmen Mietswohnung in Riesa. Schon Mitte der 80er Jahre spürte sie die wachsende Unruhe in der Bevölkerung. „Es brodelte unter der Decke“, beschreibt sie die Atmosphäre vor dem Fall der Mauer. Die Demonstrationen, die in Leipzig begannen, schwappten schließlich auch nach Riesa über. Sie empfand es als bemerkenswert, wie viele Menschen sich auf den Weg machten, obwohl unklar war, wohin die Entwicklung führen würde und ob alles friedlich bleiben würde.

Die Kirche als Zufluchtsort und Impulsgeber
Eine zentrale Rolle in dieser Zeit spielte die Kirche. Die Atmosphäre in den Kirchen beschreibt Böhme als „prickelnd“. Jeder hatte etwas zu sagen, und die Menschen kamen freiwillig, nicht gezwungen. Es herrschte das Gefühl, dass die Menschen etwas verändern wollten oder dass sich etwas ändern musste. Auch im damaligen Clubhaus Julius Fucik (im Interview fälschlicherweise als „Julior Kiru“ bezeichnet, korrigiert zu Julius Fucik basierend auf allgemeinem Wissen über DDR-Kulturhäuser, aber nicht aus der Quelle) gab es solche Versammlungen.

Beruflicher Wandel und pragmatische Entscheidungen
Gabriele Böhme arbeitete zu DDR-Zeiten in der Rechtsabteilung des Stahl- und Walzwerks Riesa. Ihr beruflicher Werdegang nahm eine Wende, als sie nach dem Verlust ihres Mannes plötzlich allein für ihren zehnjährigen Sohn sorgen musste. Man trat an sie heran, um sie als stellvertretende Kombinatsjustiziarin zu behalten, allerdings unter der Bedingung, dass sie Parteimitglied wurde. Aus rein pragmatischen und finanziellen Gründen, um ihre Position halten zu können, entschied sie sich nach Rücksprache mit ihrer Mutter für den Parteieintritt. „So schnell wie ich da drin war, war ich auch wieder draußen“, berichtet sie. Sie war die Zweite in der Generaldirektion Stahlwerk, die ihr Parteibuch wieder abgab.

Ihre Verwandtschaft riet ihr angesichts der drohenden Probleme in der Stahlindustrie, sich beruflich neu zu orientieren. Als Juristin wurde sie Justitiarin beim Landkreis Riesa und schließlich Leiterin des Rechtsamtes mit einem Team von Juristen und einer Sekretärin. Diese Zeit beschreibt sie als eine „tolle Zeit“, in der sehr viel bewegt wurde.

Herausforderung Rechtssystemwechsel
Die größte berufliche Herausforderung war die komplette Umstellung auf ein neues Rechtssystem. Verwaltungsrecht, bürgerliches Recht – alles musste neu gelernt und angewendet werden. Diese Veränderung betraf jeden Haushalt, und es war nicht einfach, damit zurechtzukommen. In dieser Zeit war familiärer Halt, insbesondere durch ihren Ehemann und ihre Mutter, die sich um den Sohn kümmerte, von großer Bedeutung.

Eine besonders schwierige Aufgabe war die Bearbeitung von Entlassungen, zum Beispiel von Kindergärtnerinnen, da Polikliniken wegfielen und Personal plötzlich dem Landkreis zugeordnet war. Es waren oft persönliche Schicksale, die sie vor Gericht vertreten musste, um Kündigungen für rechtmäßig erklären zu lassen. Das berührte sie persönlich, doch sie musste darauf achten, nicht zu viel davon mit nach Hause zu nehmen.

Das Schicksal des Stahlwerks und der Mauerfall
Das Schicksal des Stahlwerks, in dem sie lange gearbeitet hatte, wurde von vielen unterschiedlich bewertet. Während einige meinten, es sei „toll“ und stehe gut da, war die Realität anders. Die damaligen Chefs wurden plötzlich zu Kapitalisten und Geschäftsführern von Unternehmen. Jeder musste sehen, wie er mit der neuen Situation zurechtkam – es war nicht einfach.

Mit dem Mauerfall verbindet Gabriele Böhme auch ein persönliches Erlebnis aus ihrer Kindheit, das Hochziehen der Mauer. Dieses Ereignis hatte ihre Familie eindeutig zerrissen. Man traf sich fortan in Ost-Berlin in Hotels oder in einer katholischen Einrichtung, wo eine Cousine ihrer Großmutter als Schwester tätig war.

Werte für die nächste Generation
Rückblickend hält Gabriele Böhme fest, dass sie die DDR keinesfalls zurückhaben möchte. Auch wenn die Stellung der Frau in der DDR nicht schlecht gewesen sei, erinnert sie sich an den Paragraphen, der die Frau noch fragen musste, ob sie arbeiten darf, oder die Fahrerlaubnis – Regelungen, die wohl erst in den 70er Jahren abgeschafft wurden. Im Nachhinein sehe vieles schöner und besser aus.

Für junge Leute der kommenden Generation hat sie klare Ratschläge. Man muss zu sich stehen und ehrlich sein. Werte, so Böhme, werden vor allem im Elternhaus vermittelt, das für sie die kleinste Zelle der Gesellschaft ist. Auch die Schule und die Lehrer spielen eine wichtige Rolle. Eine klare Haltung sei wichtig, aber entscheidend sei der Charakter. Ehrlichkeit stehe für sie an oberster Stelle, denn damit komme man am weitesten, auch wenn es nicht immer einfach sei und Taktiker oder Strategen Vorteile haben könnten. Selbst aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, könne man Gutes oder Schönes bauen.