Am 1. März 1973 schrieb Ellen Thiemann einen verzweifelten Brief aus dem Frauenzuchthaus Hoheneck. Nach acht Wochen Haft durfte sie sich erstmals bei ihrem Mann Klaus melden. Die Haftbedingungen waren unmenschlich: überfüllte Zellen, Dreck, Lärm, Schlafentzug und die ständige Angst um ihren Sohn Carsten. Drei Jahre und fünf Monate verbrachte sie in dem berüchtigten Gefängnis, nachdem ihr Versuch, mit ihrer Familie aus der DDR zu fliehen, gescheitert war.
Die Geschichte der Familie Thiemann ist eine von vielen, die zeigen, mit welcher Unerbittlichkeit die DDR-Behörden gegen Fluchtwillige vorgingen. Bereits 1972 wagten Ellen und Klaus Thiemann mit ihrem Sohn den ersten Versuch, der DDR zu entkommen. Die Flucht sollte über Polen in den Westen führen. Doch sie scheiterte. Ein zweiter Versuch folgte Ende des Jahres, diesmal mit Hilfe einer Fluchthilfeorganisation. Der Plan: Ihr Sohn Carsten sollte als Erster die Grenze passieren. Doch Grenzbeamte entdeckten ihn in seinem Versteck im Auto. Kurz darauf standen Stasi-Beamte in der Wohnung der Familie. Ellen Thiemann wurde verhaftet und nahm die Schuld auf sich, um zu verhindern, dass ihr Sohn in ein Heim kam.
Hoheneck: Ein Ort des Grauens
Das Frauengefängnis Hoheneck war für politische Gefangene der DDR eine der schlimmsten Anstalten. Die Gefangenen litten unter unmenschlichen Bedingungen, Misshandlungen, psychischer Folter und Zwangsarbeit. Ellen Thiemann berichtete später, dass sie mit Drogen, Schlafentzug und Isolationshaft gefoltert wurde. Besonders grausam war die ständige Ungewissheit: Wer hatte sie verraten? Wer hatte die Stasi auf ihre Fluchtpläne aufmerksam gemacht?
Die Allgegenwart der Stasi
In der DDR war niemand sicher vor den Augen der Staatssicherheit. Die Stasi zählte rund 90.000 hauptamtliche Mitarbeiter und etwa 190.000 inoffizielle Mitarbeiter (IM). Briefe wurden geöffnet, Telefonate abgehört, Wohnungen durchsucht. Selbst enge Freunde oder Familienmitglieder konnten Spitzel sein. „Man konnte eigentlich auch im engsten Kreis nicht sicher sein“, erinnerte sich Ellen Thiemann später.
Nach ihrer Entlassung setzte sie sich vehement dafür ein, dass die Stasi-Akten geöffnet und aufgearbeitet wurden. Doch was sie in ihren eigenen Akten fand, war ein Schock: Ihr Ehemann Klaus hatte sie verraten. Bereits 1961, kurz nach ihrer Hochzeit, hatte er einen Antrag beim Ministerium für Staatssicherheit gestellt, um hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter zu werden. Er hatte ihre geplante Flucht verraten und eng mit der Staatssicherheit kooperiert.
Ein Leben nach der Stasi
Die Erkenntnis, vom eigenen Ehemann verraten worden zu sein, war für Ellen Thiemann ein weiterer Schlag. Dennoch kämpfte sie weiter für die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Sie schrieb Bücher über ihre Erlebnisse und klärte die Öffentlichkeit über die Mechanismen der Stasi auf. Ihr Fall ist ein mahnendes Beispiel dafür, wie die DDR mit Andersdenkenden umging und wie das perfide System der Stasi selbst engste Familienbande zerstörte.
Die Notwendigkeit der Erinnerung
Ellen Thiemanns Geschichte steht stellvertretend für tausende Schicksale von Menschen, die in der DDR verfolgt wurden. Ihre Erlebnisse zeigen, wie perfide das System der Überwachung funktionierte und wie wichtig die Aufarbeitung dieser Vergangenheit ist. Auch heute, Jahrzehnte nach dem Ende der DDR, bleibt ihre Geschichte ein wichtiger Teil der Erinnerungskultur, um zu verhindern, dass sich solche Zustände je wiederholen.