Wenn die DDR plötzlich nach Kaffeeduft und Freiheit schmeckt: Warum Lieder wie „Ostalgie“ so gefährlich gemütlich sind.
Es riecht nach Bohnenkaffee im Plattenbau. Draußen knattert verlässlich eine Simson Schwalbe vorbei, und auf dem Tisch steht, wie ein heiliger Gral der Gemütlichkeit, die Vita Cola. Die Welt ist klein, die Sorgen sind weit weg, und die Nachbarn sind noch echte Freunde.
Klingt schön, oder?
Genau dieses Gefühl verkauft der YouTube-Kanal Eichenblut mit seinem Song „OSTALGIE“. Es ist ein musikalisches Schaumbad für die ostdeutsche Seele. Und wenn man sich durch die Kommentare scrollt oder die eingängigen, schlageresken Zeilen hört, merkt man schnell: Das hier ist mehr als nur ein Lied. Es ist eine kollektive Therapie – mit Risiken und Nebenwirkungen.
Das Bullshit-Bingo der Erinnerung
Der Text funktioniert wie ein perfekt kuratiertes „Ost-Identitäts-Bingo“. Holzbaukasten? Check. Monchhichi? Check. Konsum? Check. Wer hier nickt, gehört dazu. Das Lied drückt Knöpfe, die tief im emotionalen Gedächtnis einer ganzen Generation verankert sind. Es validiert eine Biografie, die nach 1990 oft als „falsch“, „iniffizient“ oder „belastet“ abgewertet wurde.
Die Kernbotschaft des Songs lautet: „Nicht viel gehabt, doch irgendwie war alles echt.“ Das ist der zentrale Satz der Ostalgie. Er deutet den Mangel der Planwirtschaft zur moralischen Überlegenheit um. Weil wir nichts hatten, waren wir die besseren Menschen. Weil es keine Bananen gab, war unsere Freundschaft tiefer. Das ist ein tröstlicher Gedanke. Aber er ist auch eine Falle.
Die große Stille hinter dem Beat
Was diese musikalische Weichzeichnung so problematisch macht, ist nicht das, was sie zeigt, sondern das, was sie ohrenbetäubend laut verschweigt. In den vier Minuten „Ostalgie“ gibt es keine Stasi. Es gibt keine Bautzener Gefängniszellen, keine Zensur, keine Schüsse an der Mauer und keine Kinder, die zwangsadoptiert wurden, weil ihre Eltern „Republikflucht“ begingen.
Die DDR wird hier auf das private Wohnzimmer reduziert. Das ist verständlich – niemand möchte sich erinnern, wie er in einer Diktatur gelebt hat. Man erinnert sich lieber an den ersten Kuss, das Mopedfahren und den Geschmack von Brause. Das Problem beginnt dort, wo diese privaten Glücksmomente als Beweis dafür herhalten müssen, dass das System gar nicht so schlimm war.
Das Video betreibt eine Entpolitisierung der Geschichte. Es trennt den Alltag radikal vom Staat. Als hätten die gemütliche Nische und die Diktatur nichts miteinander zu tun gehabt. Dabei war der Rückzug ins Private – das „Draußen sitzen mit den Nachbarn“, das im Lied so gefeiert wird – oft keine freie Wahl, sondern die einzige Möglichkeit, unbehelligt zu bleiben.
Trotz als Heimat
„Ostdeutschland im Herzen bis zum letzten Tag“, singt die Stimme. Das klingt fast kämpferisch. Es ist eine Trotz-Identität. Nach dem Motto: Ihr habt uns unsere Betriebe genommen, aber unsere Erinnerungen kriegt ihr nicht.
Das Lied ist ein kulturelles Beruhigungsmittel. Es schmeckt süß und klebt ein bisschen, genau wie die besungene Vita Cola. Man darf das genießen, man darf sich an seine Kindheit erinnern, das ist ein Menschenrecht. Aber man sollte aufpassen, dass man vor lauter Rührung über den Holzbaukasten nicht vergisst, dass das „Reich“, das man sich damals am Tisch baute, von einer Mauer umgeben war, die für viele tödlich endete.
Wer die DDR auf „Herz und Klang“ reduziert, verwechselt Geschichte mit Folklore. Und das wird denjenigen nicht gerecht, für die diese Zeit eben nicht nach Kaffee duftete, sondern nach Angst roch.