Schatten über dem „Friedensstaat“: Die geheime Geschichte der DDR-Atomwaffen

Offiziell war die DDR der Vorreiter des Pazifismus, der „erste sozialistische Friedensstaat auf deutschem Boden“. Doch tief in den märkischen Kiefernwäldern verbarg sich eine andere Realität: Ein Netz aus Hochsicherheitsbunkern und Abschussrampen, das Ostdeutschland zu einem der gefährlichsten Orte des Kalten Krieges machte. Eine Spurensuche nach den Relikten der atomaren Eskalation.

Brandenburg, nördlich von Berlin. Wer heute durch die Wälder bei Himmelpfort oder Vogelsang spaziert, genießt die Stille des Naturschutzgebietes. Touristen pilgern zum Weihnachtspostamt oder paddeln auf der Havel. Doch unter dem moosbedeckten Waldboden, hinter längst verrosteten Stahltoren, schlief jahrzehntelang der Tod. Hier, und an Dutzenden anderen Orten der ehemaligen DDR, lagerte die Sowjetunion das, was im Jargon des Warschauer Paktes verharmlosend „Spezialmunition“ genannt wurde: Nukleare Sprengköpfe, bereit für den Dritten Weltkrieg.

Die Geschichte dieser Waffen ist eine Geschichte der Lüge. Sie handelt von einem Staat, der in seiner Verfassung den Frieden beschwor, aber gleichzeitig als Startrampe für die nukleare Vernichtung Westeuropas präpariert wurde.

Die Architektur der Angst
„Wir hatten große, solide Vorräte und brauchten vor niemandem Angst zu haben“, erinnert sich ein ehemaliger sowjetischer Militär. Die Strategie war simpel und erschreckend: Im Falle eines Konflikts mit der NATO sollten sowjetische Truppen innerhalb von sieben Tagen den Atlantik erreichen. Um den Weg freizumachen, waren massive taktische Atomschläge auf Westdeutschland eingeplant.

Zentren dieser Planung waren Orte wie das „Sonderwaffenlager Himmelpfort“ (Tarnname: Lychen II). Was auf Satellitenbildern wie ein gewöhnliches Munitionsdepot aussah, war in Wahrheit eine Festung für die Apokalypse. Die Bunker, monolithische Betonklötze, waren so konstruiert, dass sie selbst einem direkten Treffer standhalten sollten. Im Inneren herrschte eine klinische, fast surreale Atmosphäre: Temperatur und Luftfeuchtigkeit wurden penibel reguliert, um die empfindliche Elektronik und die Zündmechanismen der Sprengköpfe zu schützen.

Bunkerexperten wie Stefan Büttner, der seit Jahren die unterirdischen Hinterlassenschaften der Sowjets erforscht, stießen in diesen Anlagen auf eine Infrastruktur, die nur einen Zweck hatte: Die schnelle Übergabe der Sprengköpfe an die Trägersysteme.

Die Rolle der NVA: Handlanger ohne Schlüssel
Ein besonders perfides Kapitel der DDR-Militärgeschichte ist die Rolle der Nationalen Volksarmee (NVA). Die DDR-Führung betonte stets, keine Atomwaffen zu besitzen. Technisch gesehen war das korrekt, faktisch jedoch eine Täuschung.

Die NVA verfügte über die Raketen – etwa die R-17 (NATO-Code: Scud-B) oder später die OTR-23 (SS-23 Spider). Diese Trägersysteme waren „nuklearwaffenfähig“. In geheimen Übungen trainierten NVA-Soldaten den Umgang mit diesen Raketen, das Aufmunitionieren und die Zielerfassung. Was fehlte, war der Sprengkopf selbst.

Dieser blieb bis zur „Stunde X“ unter der strengen Kontrolle der sowjetischen Truppen (GSSD). In einem ausgeklügelten System wären im Ernstfall sowjetische Offiziere zu den NVA-Stellungen gefahren und hätten die nuklearen Köpfe übergeben. Die deutschen Soldaten wären somit zu den Exekutoren eines Atomkrieges geworden, ohne jemals die volle Kontrolle über die Waffe gehabt zu haben. Viele NVA-Offiziere ahnten zwar, was sie da übten, doch das Wort „Atom“ wurde in Befehlen oft vermieden. Man sprach von „Sonderwaffen“ oder „chemischen Mitteln“.

Die Eskalation der 80er Jahre
Die Situation spitzte sich in den frühen 1980er Jahren dramatisch zu. Als Antwort auf die geplante Stationierung von Pershing-II-Raketen durch die NATO in Westeuropa verlegte die Sowjetunion ihre hochmodernen SS-20-Raketen und später Kurzstreckenraketen mit erhöhter Reichweite in die DDR.

Orte wie Waren an der Müritz oder Bischofswerda wurden zu Pulverfässern. Die Dichte an Atomwaffen auf dem Gebiet der DDR war zu diesem Zeitpunkt wohl weltweit einzigartig. Ostdeutschland war nicht mehr nur ein Frontstaat, es war eine einzige große Abschussrampe. Die Ironie der Geschichte: Während Erich Honecker Staatsgäste empfing und Friedensappelle verlas, saß er sprichwörtlich auf einem nuklearen Vulkan, dessen Zünder in Moskau lag.

Das große Packen: Ein gefährlicher Abzug
Mit dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann 1990 eines der riskantesten Logistikunternehmen der Nachkriegszeit: Der Rücktransport der Atomwaffen nach Russland.

Moskau wollte verhindern, dass die Nuklearwaffen in die Hände eines wiedervereinigten Deutschlands fallen oder im Chaos des zerfallenden Ostblocks „verloren gehen“. In Nacht-und-Nebel-Aktionen wurden die Sprengköpfe verladen. Was die Öffentlichkeit damals nicht wusste: Diese Transporte rollten oft auf gewöhnlichen Gleisen, durch dicht besiedelte Gebiete, getarnt als normale Güterzüge.

„Es gab viel Munition, wir haben sie selbstverständlich geheim rausgeführt“, so ein Zeitzeuge. Per Bahn, LKW und Flugzeug verließen tausende Sprengköpfe das Land. Wäre es bei einem dieser Transporte zu einem Unfall gekommen, hätte dies eine „schmutzige Bombe“ im Herzen Europas bedeuten können. Bis 1991 war die DDR „sauber“ – zumindest was die atomaren Gefechtsköpfe betraf.

Das Erbe im Wald
Was bleibt, sind Ruinen. Die Bunker von Himmelpfort, Vogelsang und anderen Standorten sind heute Mahnmale aus Beton. Sie werden von der Natur zurückerobert; Fledermäuse nisten dort, wo einst der Tod in Containern lagerte.

Die Dokumentation dieser Anlagen ist wichtig, denn sie widerlegt den Mythos der ahnungslosen Unschuld. Die DDR war kein unbeteiligter Zuschauer im Kalten Krieg, sondern ein hochgerüsteter Akteur, fest eingebunden in die Vernichtungsstrategien des Kreml. Wer heute vor den massiven Stahltoren der Bunker steht, spürt den kalten Hauch einer Geschichte, die glücklicherweise nie zu ihrem geplanten Ende kam.