Die Philosophie des Hans Eckardt Wenzel, dem Vermesser des Randgebiets

Hans Eckardt Wenzel ist Liedermacher, Dichter, Komponist – und einer der scharfsinnigsten Philosophen der deutschen Gegenwart. Warum der Mann, der sich konsequent weigert, in der Mitte zu stehen, vielleicht der Einzige ist, der uns unsere Zeit noch erklären kann.

Es gibt Künstler, die suchen das Rampenlicht, weil sie dort gesehen werden wollen. Und es gibt Künstler wie Hans Eckardt Wenzel, die das Licht meiden, um selbst besser sehen zu können. Wenzel, dieser knurrige, hochgebildete, mit allen Wassern der Poesie und des Schnapses gewaschene Barde, hat sich seinen Platz gesucht. Er ist nicht in Berlin-Mitte, nicht in den Talkshows der Republik, nicht im Zentrum des gefälligen Diskurses. Er steht am Rand.

Das ist keine Klage über mangelnde Aufmerksamkeit. Es ist eine strategische Entscheidung. „Wenn man im Zentrum ist der Welt, sieht man nichts“, hat Wenzel einmal gesagt, mit jener Mischung aus preußischer Schärfe und melancholischer Weltläufigkeit, die ihn auszeichnet. Die Mitte ist für ihn der blinde Fleck des Zeitgeistes, ein Ort der Selbstbestätigung und der intellektuellen Windstille. Wer verstehen will, was mit diesem Land, mit dieser Welt passiert, der muss an die Peripherie gehen. Denn nur vom Rand aus kann man in das Zentrum hineinblicken.

Die Ethik des Clowns
Wenzel ist, im besten und ursprünglichsten Sinne des Wortes, ein „Volkskünstler“. Wer ihn heute auf der Bühne erlebt – oft mit Akkordeon, manchmal mit wütender Zärtlichkeit am Klavier –, der sieht keinen Popstar, der geliebt werden will. Man sieht einen Arbeiter. Einen, der eine Funktion erfüllt, so wie der Bäcker oder der Tischler.

Seine Auffassung von Kunst ist archaisch. Er knüpft an die Tradition jener an, die der Stamm sich hielt, um die Dunkelheit zu vertreiben. „Der hat Faxen gemacht und hat gesungen, damit der Abend nicht langweilig ist oder nicht traurig“, sagt Wenzel über den Ur-Künstler. Doch Vorsicht: Wenzels Trost ist billig nicht zu haben. Er ist kein „Mutmacher“ im Sinne der seichten Unterhaltungsindustrie, die die Risse in der Fassade mit Zuckerguss zukleistert.

Sein Trost ist dialektisch. In alter marxistischer Tradition – und Wenzel ist einer der wenigen, der die Werkzeuge dieser Denkschule noch virtuos zu nutzen weiß, ohne sich ideologisch zu mauern – will er die Verhältnisse zum Tanzen bringen. Wie? Indem er sie zuspitzt. Wenzels Kunst harmonisiert nicht. Sie macht die Widersprüche sichtbar, ja, sie macht sie im Lied oft „schlimmer“, absurder, greller. Es ist die Methode des Hofnarren: Nur durch die Eskalation der Absurdität entsteht der Druck, der zur Veränderung führt. Oder zumindest zur Erkenntnis.

Gegen den deutschen Missmut
Dabei treibt ihn eine fast physische Aversion gegen den Zustand der deutschen Seele. Wenzel diagnostiziert sein Heimatland als einen Ort des „unglaublichen Missmuts“. Ein reiches Land, zerfressen von Neid, unfähig zur Freude, erstarrt in der Verwaltung des Besitzstandes. Während im Mittelmeer Menschen ertrinken, debattiert der Bundestag wochenlang über die PKW-Maut – für Wenzel ist das kein politischer Fehler, sondern der Beweis für den „ganzen Irrsinn“ einer Gesellschaft, die den moralischen Kompass verloren hat.

Dass er 1988, kurz vor dem Mauerfall, nicht im Westen blieb, als er die Möglichkeit dazu hatte, erklärt sich aus genau dieser Haltung. Er wollte nicht von einer Provinz in die „andere Provinz“, wollte nicht Teil eines Systems werden, das den Egoismus zur Staatsräson erhebt. Er blieb, wo es weh tat, und er bleibt dort bis heute.

Sein Haus im Norden, irgendwo in der Weite Mecklenburgs oder Brandenburgs, ist ihm dabei Anker und Festung zugleich. Wenzel glaubt an die prägende Kraft der Landschaft. Die Küstenvölker, so seine Theorie, besitzen Ironie. Wer mit Ebbe und Flut lebt, lernt, dass nichts bleibt. Man klammert nicht. Ganz anders die Bergvölker – oder die Bewohner der politischen Zentren –, bei denen sich nie etwas ändert und die deshalb alles todernst nehmen. Wenzels Humor, diese subversive, oft schwarze Komik, ist ein Kind der Küste.

Weltbürger aus Notwehr
Doch der Rückzug an den Rand bedeutet keine Isolation. Im Gegenteil: Wenzels Werk ist durchweht von den Winden aus Kuba, Nicaragua, aus der weiten Welt. Er reist nicht als Tourist, er reist als Schwamm. Er saugt Rhythmen auf, Mentalitäten, Überlebensstrategien.

Er verachtet die Selbstgenügsamkeit der deutschen Kulturindustrie, die sich oft für den Nabel der Welt hält und doch nur amerikanische Vorbilder schlecht imitiert. Wenzel sucht das Fremde, um das Eigene zu überprüfen. Ohne dieses „zusätzliche Bezugssystem“, ohne den Blick von außen, wäre er, wie er selbst schonungslos zugibt, längst ein „missmutiger, böser, vergreister Arsch“. Die Arbeit, das Reisen, das Dichten ist seine Form der geistigen Hygiene. Es ist Notwehr gegen das Verblöden.

Das geheime Liebeslied
Wer Wenzel nur als den zornigen Kritiker sieht, den Mann mit der rauen Stimme, der gegen Krieg und Dummheit anschreit, der überhört das Wichtigste. Das Fundament seiner Philosophie ist nicht der Hass, sondern eine tief enttäuschte, aber unverwüstliche Liebe.

„Alle Lieder sind bei mir Liebeslieder, letzten Endes“, lautet sein Credo. Das mag paradox klingen bei einem Mann, der so scharf urteilen kann. Aber es ist der Schlüssel zu seinem Werk. Seine Wut auf die Verhältnisse speist sich aus dem Schmerz darüber, dass der Mensch hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Er besingt die „nicht vorhandene Parallelität von Freude und Trauer“, diesen Riss, der durch jedes menschliche Herz geht.

Hans Eckardt Wenzel steht am Rand, ja. Aber er steht dort nicht mit dem Rücken zur Gesellschaft, sondern mit dem Gesicht zu ihr. Er beobachtet uns. Er schreibt alles auf. Er denunziert niemanden, aber er verschont auch niemanden. Er ist der Chronist, den wir nicht bestellt haben, den wir aber dringend brauchen.

In einem seiner Gedichte heißt es: „halte dich von den Siegern fern / halte dich am Rand“. Es ist ein guter Rat. Denn dort, wo Wenzel steht, ist die Luft klarer. Und die Musik ist besser.