Wie die Jugend von Milkel ihre Freizeit selbst organisieren muss

Milkel/Bautzen. Es ist März 1986. Eine Delegation der Volkskammer ist im Landkreis Bautzen unterwegs. Ihr Ziel: Milkel, ein 1.000-Seelen-Dorf an der Kleinen Spree. Im Gepäck haben die Abgeordneten des Jugendausschusses das „Jugendgesetz der DDR“, genauer gesagt den Paragrafen 30. Dieser verspricht jedem jungen Bürger das Recht auf Geselligkeit, Tanz und „niveauvolle Freizeitgestaltung“. Doch in Milkel trifft das gedruckte Gesetz auf die harte Realität der ländlichen Mangelwirtschaft.

Was die Abgeordneten vorfinden, ist symptomatisch für viele kleine Gemeinden der späten DDR: Eine Jugend, die will, aber nicht kann – und eine Infrastruktur, die mehr Löcher als Angebote aufweist.

Winterruhe statt Disko-Fieber
Für die rund 200 Jugendlichen im Ort und der näheren Umgebung gleicht der Winter einer kulturellen Eiszeit. Ein Kino? Fehlanzeige. Zwar gibt es im Sommer Filmvorführungen, doch sobald die Temperaturen fallen, bleiben die Leinwände dunkel. Selbst das sieben Kilometer entfernte Lichtspielhaus in Groß-Dubrau hält Winterschlaf. Wer in die 20 Kilometer entfernte Kreisstadt Bautzen will, scheitert oft am spärlichen Busverkehr.

Auch sportlich heißt es improvisieren. Eine Turnhalle existiert nur auf dem Papier der Planer. „Nächstes Jahr“, so versichert Bürgermeister Mandl den Besuchern aus Berlin, soll der Bau endlich beginnen. Bis dahin müssen der Sportplatz und das Wetter mitspielen.

Der Kampf um die eigenen vier Wände
Dass die Milkeler Jugend sich nicht alles gefallen lässt, beweist die Geschichte ihres Jugendklubs. Jahrelang fühlte man sich als „Stiefkind der Gemeinde“. Seit 1980 existierte der Klub, doch ohne festes Domizil. Erst eine offizielle Eingabe an den Kreis – ein gewagter bürokratischer Schritt – brachte Bewegung in die Sache. Mit Unterstützung der Gemeinde und viel Eigenleistung bauten die Jugendlichen ein Haus aus.

Doch kaum war das Dach über dem Kopf gesichert, folgte der Ärger mit den Nachbarn. Der Lärmpegel und die knatternden Mopeds, mit denen die Jugend nachts vom Hof rollt, sorgen für Zwist im Dorf. Zudem fehlen Lagermöglichkeiten; Keller und Boden sind von Anwohnern belegt. Die Jugendlichen zeigen sich den Abgeordneten gegenüber jedoch einsichtig: Eine neue Klubordnung soll den Frieden im Dorf wiederherstellen.

Kellnern für den Tanz
Das drängendste Problem aber bleibt der Tanz. „Alle 14 Tage reicht uns nicht“, lautet die klare Ansage der Dorfjugend an die Politik. Im Umkreis von 20 Kilometern gibt es nur drei Säle, die den Bedarf der Region decken könnten. Schichtarbeiter gehen oft leer aus, da fast nur am Wochenende gefeiert wird.

Der Engpass ist nicht nur der Raum, sondern das Personal. Der örtliche Gaststättenleiter winkt ab: Jede Woche Tanz? Nicht machbar. Hier zeigt sich die ganze Improvisationskunst der DDR-Gesellschaft. Die Lösung, die im März 1986 auf dem Tisch liegt, ist ein Tauschgeschäft: Die Wirtin stimmt drei Tanzabenden im Monat zu – aber nur unter einer Bedingung. Die Jugendlichen müssen das Personal stellen. Wer tanzen will, muss kellnern.

Ein Gesetz, das Arbeit macht
Der Besuch der Volkskammer in Milkel endet mit einem gemischten Bild. Die Jugendlichen nehmen das Angebot an: Sie werden bedienen, sie werden eigene Themenabende organisieren, vom Mitternachtstanz für die Älteren bis zur Disko für die Jüngeren.

Milkel im Frühjahr 1986 ist ein Lehrstück für die Situation im Land: Das Jugendgesetz wird nicht durch staatliche Vollversorgung erfüllt, sondern durch die Eigeninitiative derer, die es schützen soll. Die Lücken, die der Mangel an Bussen, Kinos und Personal reißt, stopft die Jugend mit Engagement – und dem Tablett in der Hand.