Warum der 9. November ein Triumph des glücklichen Zufalls war

Es begann mit einem bürokratischen Unfall. Eigentlich wollte die DDR-Führung an jenem 9. November 1989 nur Zeit kaufen. Eine neue Reiseregelung, versehen mit einer Sperrfrist bis 4 Uhr morgens, sollte den Druck vom Kessel nehmen und den Staatsorganen Vorbereitungszeit verschaffen. Doch dann kam die Pressekonferenz, die Frage des Journalisten Peter Brinkmann und Günter Schabowskis offensichtlich unvollständiges Erfassen des ihm gereichten Textes. „Sofort, unverzüglich“, stammelte er. Zwei Worte, die aus dem Kontext gerissen eine Lawine auslösten, die keine Mauer mehr aufhalten konnte.

Wenn wir heute auf diese Nacht blicken, sehen wir meist die tanzenden Menschen auf der Mauer. Wir sehen das glückliche Ende. Doch analysiert man die kritischen Stunden dazwischen, läuft einem ein kalter Schauer über den Rücken. Denn die friedliche Revolution war in dieser Nacht weniger ein Triumph strategischer Planung als vielmehr das Ergebnis eines kolossalen systemischen Versagens.

Während die Massen zu den Übergängen strömten, herrschte in den Machtzentralen der DDR nicht etwa Besonnenheit, sondern ein gefährliches Vakuum. Die Führung war desorientiert, entscheidungsschwache Kader waren schlichtweg nicht erreichbar. Die rigide Hierarchie, die Jahrzehnte auf Befehl und Gehorsam setzte, kollabierte in genau dem Moment, als sie am dringendsten gebraucht wurde – oder besser gesagt: Zum Glück kollabierte sie.

Denn die Gefahr war real und unsichtbar. Unweit des Geschehens, in der Invalidenstraße, saß eine schwer bewaffnete Eliteeinheit in einem abgedunkelten Bus. Ihr Auftrag war klar definiert: Räumung des Grenzübergangs, notfalls mit Gewalt. „Ein einziger Schuss hätte alles verändert“, sagt ein Zeitzeuge. Peking und das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens waren nur Monate her, die Erinnerung an Prag 1968 wach. Dass diese Soldaten im Bus blieben, lag einzig daran, dass sie auf Befehle warteten, die aufgrund der Führungslähmung nie kamen.

Die Situation war so explosiv, dass selbst am Brandenburger Tor die West-Berliner Polizei – mit Erlaubnis der Alliierten – auf DDR-Territorium vorrücken musste, um als Puffer zu wirken. Junge West-Berliner hämmerten dort auf die Mauer ein, was von den DDR-Sicherheitskräften als Angriff gewertet wurde. Nur die vorab gegebene Garantie der Sowjetunion, unter keinen Umständen zu intervenieren, verhinderte, dass aus der geopolitischen Anspannung ein militärischer Konflikt wurde.

Was bleibt also als Lehre aus dieser Schicksalsnacht? Der Frieden war nicht zwangsläufig. Er war das Resultat einer bizarren Konvergenz: Das Wissen um die sowjetische Nichteinmischung traf auf das technische Versagen der DDR-Befehlskette und die eiserne Disziplin wartender Soldaten. Dass wir heute die Einheit feiern, verdanken wir nicht zuletzt der Tatsache, dass im entscheidenden Moment niemand ans Telefon ging.