
Es gibt Menschen in der Geschichte, deren Bedeutung sich nicht aus Lautstärke ergibt, sondern aus einer Art innerer Gravitation. Hans Modrow gehörte zu ihnen. Als letzter Ministerpräsident der DDR stand er 1989/90 an einem historischen Bruchpunkt, den niemand steuern konnte – aber der jemanden brauchte, der nicht davonlief. Erst viele Jahre später ist sichtbar geworden, wie fragil diese Monate waren und wie viel vom Ausgang abhing, dass an der Spitze ein Mann stand, der weder das Chaos suchte noch den eigenen Vorteil.
Die Erinnerungen seiner Wegbegleiter zeichnen ein Bild, das mit dem gängigen Klischee der Funktionärselite wenig zu tun hat. Modrow, Sohn eines Schusters aus einem pommerschen Dorf, blieb auch in hohen Ämtern der Mensch, der sich sonntags auf der Treppenhausliste eintrug, um im Dresdner Mietshaus wie alle anderen den Flur zu kehren. Ein Politiker, der wusste, wo er herkam – und sich nicht größer machte, als er war.
Diese Bodenständigkeit zeigt sich in einer Szene aus den 1980er-Jahren, die charakteristischer ist als viele Reden: Während ein Politbüro-Mitglied sich im hupenden Volvo durch eine Jugendfestival-Menge drängte, kam Modrow zu Fuß. Er wurde aufgehalten, nicht aus Respekt vor Amt und Krawatte, sondern weil ihm die Jugendlichen auf die Schulter klopften, Fragen stellten, ins Gespräch eintauchten. Wer Nähe suchte, fand sie bei ihm. Und wer Elfenbeintürme erwartete, suchte vergeblich.
Als die Volkskammer ihn Anfang 1990 zum Regierungschef wählte, war das Land politisch, wirtschaftlich und moralisch am Rand der Funktionsfähigkeit. Doch Justiz, Polizei, Versorgung – nichts brach zusammen. Modrow verstand sein Amt als Übergang in eine ungewisse Zukunft, nicht als Bühne. Selbst zwanzig Jahre später bedankten sich Ostdeutsche bei ihm für jene schlichten, aber wirkungsvollen „Modrow-Gesetze“, die dafür sorgten, dass viele ihr kleines Häuschen behalten konnten.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass Hegels Satz vom ewigen Nicht-Lernen der Menschheit aus ihrer eigenen Geschichte Modrow im Jahr 2023 besonders beschäftigte. Er sah zerstörte Städte, brennende Fahrzeuge, fliehende Menschen – Bilder, die ihn an seine eigenen Kindheitserfahrungen erinnerten. Vielleicht waren es diese Narben, die ihn zu einem Politiker machten, der Konflikte nicht eskalieren, sondern beruhigen wollte.
Hans Modrow war kein Held im pathetischen Sinn. Aber er war ein Politiker, der in einer historischen Unwucht Haltung bewahrte. Ein Mensch, der neugierig blieb auf andere Lebensentwürfe und der in einer Zeit des Bruchs eine Kontinuität bot, die heute oft unterschätzt wird.
Abschied ist ein leises Wort. In seinem Fall passt es. Denn es beschreibt einen Lebensweg, der gerade in seiner Stille Gewicht hatte.