Die Lehre von Danz und Reiser – Ostpoesie trifft Westprotest

Die Mauer ist seit mehr als 35 Jahren gefallen. Doch die Mauern im Kopf – jene unsichtbaren Linien der Prägung – sind hartnäckiger als Beton. Und im Mikrokosmos der deutschen Rockmusik zeigt sich diese Teilung in zwei Figuren, die sie zugleich überwunden haben: Rio Reiser und Tamara Danz.

Beide verkörperten radikale Haltung – aber unter völlig unterschiedlichen Bedingungen.

Im Westen durfte der Protest laut sein. Rio Reiser, die unverwechselbare Stimme der Scherben, lieferte den Soundtrack einer linksalternativen Bewegung, die sich nicht mit Parolen begnügte, sondern sie lebte. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ war kein Lied, sondern eine Ansage. Der Preis: ökonomische Isolation, später eine Solokarriere, die viele als Abkehr missinterpretierten – dabei war sie vor allem der Versuch, zwischen Ideal und Markt zu überleben.

Im Osten dagegen war offener Aufstand keine Option. Rebellion musste sich tarnen. Tamara Danz perfektionierte mit Silly die „zweite Sprache“ der DDR: Kritik eingeschrieben in Bilder, Chiffren, Metaphern – ein Code, den das Publikum verstand und die Zensoren oft nicht. Der Widerstand verlegte sich ins Poetische. Silly riss Mauern ein, nicht durch Lärm, sondern durch List.

Trotz aller Unterschiede verband beide Künstler etwas Grundsätzliches: die Fähigkeit zur Melancholie, zur existenziellen Tiefe. Reisers verletzliche Wehmut in „Junimond“ fand ihr Ost-Pendant in „Über ihr taute das Eis“. Die Sehnsucht, die dort spricht, kannte keine Mauer.
1992 trafen sich diese Welten. Reiser und Silly nahmen gemeinsam „Durch die Wüste“ auf – die offene Kampfansage der Scherben verschmolz mit Sillys codiertem Dissens. Ein Moment der künstlerischen Wiedervereinigung, geschaffen nicht durch Politik, sondern durch Haltung.

Und vielleicht ist das die eigentliche Lehre ihrer Biografien: Authentische Kunst bleibt systemkritisch, egal ob der Gegner Kapitalismus heißt oder Sozialismus. Mauern – aus Beton, Ideologie oder Bequemlichkeit – mögen stabil wirken. Doch gegen die Kraft der Poesie und gegen Künstler, die Haltung zeigen, haben sie am Ende keine Chance.