DDR-Kommunalwahl 1989: Die Wahlfälschung, die zum Anfang vom Ende wurde

Am 7. Mai 1989 verkündete die Deutsche Demokratische Republik ein scheinbar triumphales Wahlergebnis: 98,85 Prozent der Stimmen für die Kandidaten der Nationalen Front, bei einer Wahlbeteiligung von 98,77 Prozent. Doch diese Zahlen waren eine dreiste Lüge, die viele Bürger und selbst ranghohe Funktionäre durchschauten – ein Betrug, der den Weg für den Herbst ’89 ebnete.

Im letzten Jahr der DDR hatten Bürgerrechtler landesweit zur Kontrolle der Stimmauszählung aufgerufen, monatelang vorbereitet durch Flugblätter und Aufrufe. In Leipzig organisierte Michael Arnold diese Aktion und stellte fest: „Das war offensichtlich Betrug. Wir mussten das nur versuchen nachzuweisen.“ Ihre Beobachtungen zeigten, dass etwa zehn Prozent der Wähler mit Nein stimmten oder sich den Kandidaten widersetzten, und weitere zehn Prozent gar nicht zur Wahl gingen. Offiziell wurde lediglich ein Widerstand von ein bis maximal zwei Prozent zugegeben, was den Wahlbetrug offensichtlich machte.

20 Prozent Wahlverweigerer – ein Akt des Mutes in der SED-Diktatur
Aus heutiger Sicht mögen 20 Prozent wie eine kleine Zahl erscheinen, doch vor 30 Jahren bedeutete die Verweigerung des Gehorsams in der SED-Diktatur erhebliche Nachteile. Brigitte Bielke, damals Berufsschullehrerin aus Möllensdorf, erlebte dies am eigenen Leib. Weil sie ihr gesetzlich verbrieftes Recht nutzte und nicht zur Wahl ging, wurde sie innerhalb weniger Stunden von Funktionären aufgesucht und ihr wurden Konsequenzen angedroht. Kurz darauf verlor sie ihren Arbeitsplatz fristlos, da sie angeblich gegen die Arbeitsordnung für Pädagogen verstoßen hatte, die die Vertretung der SED-Politik vorschrieb. Brigitte Bielke stellte einen Ausreiseantrag und landete schließlich im Gefängnis.

Die Stasi führte sogar eine eigene Kartei für Nichtwähler. In Leipzig umfasste diese Kartei 32.000 Personen, die wortwörtlich abgestempelt wurden. Spitzel der Staatssicherheit, wie der unter dem Decknamen „Wolfram“, saßen überall in den Wahllokalen und erfassten Wähler, die die Wahlkabine nutzten.

Protest auf den Straßen und manipulierte Protokolle
Aus Protest gegen diese „Wahlfarce“ organisierten Bürgerrechtler in Leipzig am Wahlabend eine Demonstration. Flugblätter wurden heimlich in Briefkästen gesteckt, wobei Michael Arnold improvisieren musste, da ihm wichtige Buchstaben fehlten. Am Wahlabend standen mehr als 2.500 Sicherheitskräfte etwa 700 Demonstranten gegenüber; es gab 72 vorläufige Festnahmen. Einer der Fotografen, dessen Name in den Quellen nicht genannt wird, hielt die Verhaftungen fest, bis er selbst von der Volkspolizei weggezerrt und verhaftet wurde.

Doch die Manipulation fand nicht nur auf der Straße statt. Günter Polauke, damals Bezirksbürgermeister von Berlin-Treptow, sollte für die gewünschten Wahlergebnisse sorgen. Er erhielt im Roten Rathaus eine klare Vorgabe auf einem Zettel – eine präzise Prozentzahl mit zwei Stellen hinter dem Komma. Das Wahlergebnis stand also schon lange vor der Wahl fest. Polauke versuchte mehrfach, die Zentrale über die realen Ergebnisse zu informieren, als er feststellte, dass die Vorgaben nicht mit den tatsächlichen Stimmen übereinstimmten. Er unterschrieb das manipulierte Wahlprotokoll erst am nächsten Morgen, in der Hoffnung, dass sich die Situation über Nacht ändern würde.

Ein Wendepunkt: Die Regierung ignorierte Warnungen
Die Staatssicherheit war sich der wahren Wahlergebnisse und der Überwachung durch die Bürgerrechtler bewusst. Sie warnte die Regierung vergeblich vor dem offenkundigen Betrug. Doch die SED und der DDR-Staat konnten oder wollten nicht von einem Ergebnis abweichen, das mit dem „Aufbruch des Sozialismus und allen Errungenschaften“ verbunden war. Diese selbstgestellte Falle führte dazu, dass die Regierung die Warnungen ignorierte.

Die gefälschte Kommunalwahl war ein wichtiger Schritt zum Umsturz im Herbst 1989. Sie führte dazu, dass selbst Parteimitglieder an der Richtigkeit der offiziellen Politik zu zweifeln begannen und trug maßgeblich zum Vertrauensverlust in das System bei, der letztlich zum Ende der DDR führte.

Die Nacht der verpassten Chance: Walter Momper trifft Bärbel Bohley

Teaser für Social Media & Newsletter 1. Persönlich (Meinung/Kolumne) Haben Sie sich schon einmal gefragt, wann genau der Traum vom „Dritten Weg“ der DDR eigentlich starb? Ich glaube, es war an einem einzigen Abend in Schöneberg. Walter Momper flehte Bärbel Bohley fast an: „Regiert endlich! Sonst macht es Kohl.“ Ihre Absage rührt mich bis heute fast zu Tränen. Sie wollten rein bleiben, nur Opposition sein – und gaben damit, ohne es zu wollen, ihr Land aus der Hand. Ein Lehrstück darüber, dass Moral allein in der Politik manchmal nicht reicht. 2. Sachlich-Redaktionell (News-Flash) Historisches Dokument beleuchtet Schlüsselmoment der Wendezeit: Ende 1989 lud Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper Vertreter der DDR-Opposition ins Rathaus Schöneberg. Laut Mompers Aufzeichnungen in „Grenzfall“ drängte er Gruppen wie das „Neue Forum“ zur sofortigen Regierungsübernahme, um Helmut Kohl zuvorzukommen. Bärbel Bohley lehnte dies jedoch kategorisch ab („Wir sind und bleiben Opposition“). Eine Entscheidung, die den Weg zur schnellen Wiedervereinigung ebnete. 3. Analytisch und Atmosphärisch (Longread/Feature) Es war ein Aufeinandertreffen zweier Welten im Rathaus Schöneberg: Hier der westdeutsche Machtpragmatiker Walter Momper, dort die idealistischen Moralisten der DDR-Bürgerbewegung um Bärbel Bohley. Während Momper das Machtvakuum sah und vor einer Übernahme durch Bonn warnte, beharrte die Opposition auf ihrer Rolle als Kritiker. Dieser Abend illustriert das tragische Dilemma der Revolution von 1989: Wie der moralische Anspruch der Bürgerrechtler ihre politische Handlungsfähigkeit lähmte.

Die Roten Preußen: Aufstieg und stilles Ende der Nationalen Volksarmee

Teaser 1. Persönlich Stell dir vor, du trägst eine Uniform, deren Schnitt an die dunkelsten Kapitel der Geschichte erinnert, während du einen Eid auf den Sozialismus schwörst. Für tausende junge Männer in der DDR war das keine Wahl, sondern Pflicht. Mein Blick auf die NVA ist zwiegespalten: Ich sehe die helfenden Hände im Schneewinter 1978, aber auch die Drohkulisse an der Mauer. Wie fühlte es sich an, Teil einer Armee zu sein, die am Ende einfach verschwand? Eine Reise in eine verblasste, graue Welt. 2. Sachlich-Redaktionell Im Januar 1956 offiziell gegründet, war die Nationale Volksarmee (NVA) weit mehr als nur das militärische Rückgrat der DDR. Von der verdeckten Aufrüstung als „Kasernierte Volkspolizei“ bis zur Integration in die Bundeswehr 1990 zeichnet dieser Beitrag die Historie der ostdeutschen Streitkräfte nach. Wir analysieren die Rolle ehemaliger Wehrmachtsoffiziere, die Einbindung in den Warschauer Pakt und die dramatischen Tage des Herbstes 1989, als die Panzer in den Kasernen blieben. 3. Analytisch & Atmosphärisch Sie wurden die „Roten Preußen“ genannt: Mit steingrauen Uniformen und Stechschritt konservierte die NVA militärische Traditionen, während sie ideologisch fest an Moskau gebunden war. Der Beitrag beleuchtet das Spannungsfeld zwischen preußischer Disziplin und sozialistischer Doktrin. Er fängt die Atmosphäre des Kalten Krieges ein – von der frostigen Stille an der Grenze bis zur bleiernen Zeit der Aufrüstung – und zeigt, wie eine hochgerüstete Armee im Moment der Wahrheit implodierte.

Der Gefangene von Grünheide: Wie der Staat einen seiner Besten zerstören wollte

Teaser-Varianten für "Der Gefangene von Grünheide" 1. Persönlich: Der Mann hinter der Mauer Er war ein Held, der dem Tod im Nazi-Zuchthaus entronnen war, ein gefeierter Wissenschaftler, ein Vater. Doch Robert Havemanns größter Kampf fand nicht in einem Labor statt, sondern in seinem eigenen Haus in Grünheide. Von seinen einstigen Genossen verraten und isoliert, lebte er jahrelang unter dem Brennglas der Stasi. Sie nahmen ihm seine Arbeit, seine Freunde und fast seine Würde – aber niemals seine Stimme. Lesen Sie die bewegende Geschichte eines Mannes, der lieber einsam war als unehrlich, und erfahren Sie, wie er aus der Isolation heraus ein ganzes System das Fürchten lehrte. Ein Porträt über Mut, Verrat und die unbesiegbare Freiheit der Gedanken. 2. Sachlich-Redaktionell: Chronik einer Zersetzung Vom Vorzeige-Kommunisten zum Staatsfeind Nr. 1: Der Fall Robert Havemann markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der DDR-Opposition. Unser Hintergrundbericht analysiert die systematische Strategie der „Zersetzung“, mit der das MfS ab 1964 versuchte, den kritischen Professor gesellschaftlich und physisch zu vernichten. Wir beleuchten die Hintergründe seines Parteiausschlusses, die perfiden Methoden der Isolation in Grünheide und das kalkulierte Verwehren medizinischer Hilfe bis zu seinem Tod 1982. Eine detaillierte Rekonstruktion des Machtkampfes zwischen einem totalitären Apparat und einem einzelnen Intellektuellen, der zur Symbolfigur für die Bürgerrechtsbewegung von 1989 wurde. 3. Analytisch & Atmosphärisch: Die Angst des Apparats Es ist still in den Wäldern von Grünheide, doch der Schein trügt. Vor dem Tor parkt ein Wartburg, darin Männer in grauen Mänteln, die auf eine unsichtbare Bedrohung starren: einen lungenkranken Professor. Diese Reportage nimmt Sie mit an den Ort, an dem die Paranoia der DDR-Führung greifbar wurde. Warum fürchtete ein hochgerüsteter Staat das Wort eines einzelnen Mannes so sehr, dass er ihn in einen goldenen Käfig sperrte? Wir blicken hinter die Kulissen der Macht und zeigen, wie die Stasi mit operativer Kälte versuchte, einen Geist zu brechen – und dabei ungewollt einen Mythos schuf, der mächtiger war als jede Mauer. Eine Geschichte über das Schweigen, das Schreien und die subversive Kraft der Wahrheit.

Die Nacht der verpassten Chance: Walter Momper trifft Bärbel Bohley

Teaser für Social Media & Newsletter 1. Persönlich (Meinung/Kolumne) Haben Sie sich schon einmal gefragt, wann genau der Traum vom „Dritten Weg“ der DDR eigentlich starb? Ich glaube, es war an einem einzigen Abend in Schöneberg. Walter Momper flehte Bärbel Bohley fast an: „Regiert endlich! Sonst macht es Kohl.“ Ihre Absage rührt mich bis heute fast zu Tränen. Sie wollten rein bleiben, nur Opposition sein – und gaben damit, ohne es zu wollen, ihr Land aus der Hand. Ein Lehrstück darüber, dass Moral allein in der Politik manchmal nicht reicht. 2. Sachlich-Redaktionell (News-Flash) Historisches Dokument beleuchtet Schlüsselmoment der Wendezeit: Ende 1989 lud Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper Vertreter der DDR-Opposition ins Rathaus Schöneberg. Laut Mompers Aufzeichnungen in „Grenzfall“ drängte er Gruppen wie das „Neue Forum“ zur sofortigen Regierungsübernahme, um Helmut Kohl zuvorzukommen. Bärbel Bohley lehnte dies jedoch kategorisch ab („Wir sind und bleiben Opposition“). Eine Entscheidung, die den Weg zur schnellen Wiedervereinigung ebnete. 3. Analytisch und Atmosphärisch (Longread/Feature) Es war ein Aufeinandertreffen zweier Welten im Rathaus Schöneberg: Hier der westdeutsche Machtpragmatiker Walter Momper, dort die idealistischen Moralisten der DDR-Bürgerbewegung um Bärbel Bohley. Während Momper das Machtvakuum sah und vor einer Übernahme durch Bonn warnte, beharrte die Opposition auf ihrer Rolle als Kritiker. Dieser Abend illustriert das tragische Dilemma der Revolution von 1989: Wie der moralische Anspruch der Bürgerrechtler ihre politische Handlungsfähigkeit lähmte.