Berlin/Gorzów Wielkopolski (Landkreis) – Viele Annahmen und Spurensuchen, aber nur wenige umfassende Studien gab es bislang zum Binnenverhältnis der Geheimpolizeien Osteuropas. Diese Forschungslücke schließt nun eine wegweisende Studie: Dr. Tytus Jaskułowski hat in seiner Habilitationsschrift das Verhältnis zwischen dem Ministerium für Staatssicherheit (MFS) der DDR und dem polnischen Innenministerium (MSW) – dem dort beheimateten polnischen Sicherheitsdienst – untersucht. Seine Arbeit, die auf jahrelanger Archivrecherche in Deutschland und Polen basiert, trägt den vielsagenden Titel „Eine Freundschaft, die es nicht gab“.
Jaskułowski, Professor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Gorzów Wielkopolski und Herausgeber der wissenschaftlichen Reihe über Polen-bezogene Stasi-Dokumente, bringt eine einzigartige deutsch-polnische Perspektive in seine Forschung ein. Für ihn ist das Thema nicht nur akademisch, sondern auch persönlich verwurzelt, da er als Jugendlicher durch polnische Presseberichte über die Stasi auf das Thema stieß. Seine Studie konzentriert sich auf die letzten 15 Jahre dieser Kooperation, eine Zeit der Öffnung des Ostblocks nach Westen, geprägt von der Gründung der Gewerkschaft Solidarność in Polen und der sowjetischen Politik von Glasnost und Perestroika.
In seiner Arbeit entkräftet Jaskułowski drei zentrale Mythen, die das Bild dieser Geheimdienstbeziehung prägten:
Mythos 1: Die operative Arbeit des MFS in Polen war super intensiv. Oft kursierten Zahlen von bis zu 1.500 Stasi-Agenten in Polen. Jaskułowski korrigiert diese Zahl drastisch. Nach seiner gründlichen Analyse waren es maximal 100 Personen, die tatsächlich verlässliche Informationen lieferten. Dabei unterscheidet er zwischen:
◦ Ad-hoc-Agenten: Personen, die nur gelegentlich bei Urlaubs- oder Familienbesuchen in Polen für die Stasi tätig waren und beispielsweise Flyer sammelten.
◦ Residenten: DDR-Bürger wie Studenten, Diplomaten oder Gastwissenschaftler, die sich länger in Polen aufhielten und Tendenzen analysieren sollten.
◦ Operatives: Eine sehr kleine Gruppe von Personen, die aktiv im Feld unterwegs waren, darunter auch Doppelagenten oder Anwerbeversuche, die die Stasi zu schützen versuchte. Die Qualität der gesammelten Informationen war dabei entscheidend, nicht die bloße formelle Registrierung als „inoffizieller Mitarbeiter“. Viele vermeintliche „Agenten“ waren eher oberflächliche Beobachter, deren Berichte wenig über die wirkliche Lage Polens aussagten.
Mythos 2: Das polnische Innenministerium (MSW) war schwach organisiert und in Bezug auf die Aufklärung der DDR ineffizient. Dieser Mythos wird durch Jaskułowskis Quellenanalyse ebenfalls entkräftet. Obwohl das MSW mit etwa 24.000 Mitarbeitern Ende der 1980er Jahre personell deutlich kleiner war als die Stasi mit über 90.000 Hauptamtlichen, war es keineswegs ineffizient. Die polnische Geheimpolizei war durchaus in der Lage, ihre Arbeit zu erledigen und besaß ein großes Interesse an der „deutschen Dimension“, sowohl aus historischen Gründen (Zweiter Weltkrieg) als auch wegen der direkten Grenzkonflikte mit der DDR. Jaskułowski konnte nachweisen, dass das MSW über viele Stasi-Aktivitäten in Polen sehr schnell Bescheid wusste. Ein Beispiel ist der Anwerbeversuch eines polnischen Bürgers durch die Stasi, dessen Information bereits 84 Stunden später dem polnischen Innenminister Czesław Kiszczak vorlag. Die Stasi war sich dieser Umstände bewusst und behandelte die polnische Seite mit Misstrauen, um eigene Quellen zu schützen, wie der Fall eines Doppelagenten beim Bundesamt für Verfassungsschutz zeigt, dessen Informationen nicht an die polnische Seite weitergegeben wurden.
Mythos 3: Die Kooperation zwischen MFS und MSW war relativ harmonisch. „Es gibt keine Freundschaft in dieser Welt“ – dieser Grundsatz der Nachrichtendiensttheorie trifft auch auf die Beziehungen innerhalb des Warschauer Paktes zu. Jaskułowski beschreibt die Beziehungen als „schizophrenisch“, da Polen gleichzeitig Freund und potenzielle Gefahr für die DDR war. Mehrere Faktoren untergruben jede Vorstellung von Harmonie:
◦ Grenzkonflikte: Insbesondere um die Seegrenze in der Pommerschen Bucht, die mit erheblichen wirtschaftlichen Interessen verbunden war.
◦ Parteipolitische Dimension: Aus Sicht der SED stellte jede „friedliche Revolution“ im Warschauer Pakt, wie die Solidarność-Bewegung, eine Gefahr dar, die auf die DDR übergreifen könnte.
◦ Wirtschaftlicher Wettbewerb: Die DDR wollte immer „Startnummer 1“ im Warschauer Pakt nach der Sowjetunion sein, während Polen ebenfalls diesen Status beanspruchte. Ein anschauliches Beispiel für das disharmonische Verhältnis liefert die Geschichte einer Prostituierten auf der Leipziger Messe, die vom MFS angeworben werden sollte. Die Stasi-Mitarbeiter wussten jedoch nicht, dass diese Frau bereits einen Betreuer beim polnischen Innenministerium hatte. Als sie zurück in Polen war, informierte sie ihren Betreuer, was zu einer förmlichen Entschuldigung der DDR-Seite gegenüber Polen führte – ein alltäglicher Vorgang, der das tatsächliche Kräftemessen unter der Oberfläche aufzeigt.
Jaskułowskis Forschung ist nur durch den Zugang zu umfassenden Archivbeständen möglich gewesen. Er recherchierte intensiv im Stasi-Unterlagen-Archiv (BSTU) in Deutschland und im Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) in Polen. Während der Zugang zu Stasi-Akten in Deutschland relativ schnell und umfassend war, gestaltete sich die Forschung im polnischen Parallelarchiv schwieriger, da bestimmte Akten bis 2015 in einer „gesperrten Ablage“ lagen und spezielle Genehmigungen erforderten.
Neben seiner Habilitationsschrift hat Titus Jaskułowski auch ein weiteres Buch mit dem Titel „Spione wie ihr“ veröffentlicht, das 150 „absurde, plakative Kurzepisoden aus dem deutsch-polnischen Geheimdienstalltag“ versammelt. Dieses Bonusbuch bietet einen leichteren Zugang zu den oft skurrilen Seiten der Geheimdienstarbeit und ist laut Jaskułowski auch eine Form der „psychischen Hygiene“ angesichts der grausamen Realität, die er erforscht.
Die Studie von Titus Jaskułowski ist ein wesentlicher Beitrag zum Verständnis der komplexen und oft widersprüchlichen Beziehungen zwischen den Geheimdiensten des Warschauer Paktes und widerlegt nachhaltig vereinfachende Narrative von Freundschaft oder Schwäche.