Er galt als der „Totengräber der DDR“, der Mann, der für das finanzielle Missmanagement verantwortlich gemacht wurde, das den Staat in den Ruin trieb. Günter Mittag, von 1962 bis 1989 (mit einer Unterbrechung von 1973 bis 1976) Sekretär für Wirtschaft im Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), spielte eine zentrale, aber auch umstrittene Rolle im wirtschaftlichen Niedergang der Deutschen Demokratischen Republik. Doch wer war dieser Mann wirklich und wie konnte er einen derartigen Einfluss ausüben?
Aufstieg und Wandel der Wirtschaftspolitik
Mittag, geboren 1926 in Stettin, machte Karriere bei der Reichsbahn und war seit 1946 aktives Mitglied der SED. Nach seiner Promotion 1958 über die Überlegenheit der sozialistischen Organisation des Eisenbahnwesens, stieg er rasch auf und wurde 1961 stellvertretender Vorsitzender des Volkswirtschaftsrates und 1962 Mitglied des Zentralkomitees.
Zusammen mit führenden Ökonomen der SED war Mittag maßgeblich an der Entwicklung des Neuen Ökonomischen Systems (NÖS) beteiligt, einer Reform zur Verbesserung der planwirtschaftlichen Strukturen, die von Parteichef Walter Ulbricht unterstützt wurde. Das Programm zeigte anfänglich Erfolg, stieß jedoch auf Widerstand innerhalb der SED-Führung, da es einen gewissen Grad an Dezentralisierung mit sich brachte, die ihre Macht verwässerte.
Mit dem Machtantritt Erich Honeckers 1971 wurde ein klarer Bruch mit Ulbrichts Reformen vollzogen. Auf dem 8. SED-Parteitag im selben Jahr wurde die Befehlswirtschaft zementiert, ein Zeitpunkt, der oft als Beginn der Abwärtsspirale der DDR angesehen wird. Obwohl Mittag als enger Assistent Ulbrichts galt, überlebte er den Machtwechsel, indem er sich von seinem ehemaligen Chef distanzierte. Seine wirtschaftlichen Vorstellungen passten jedoch zunächst nicht zu Honeckers Vision, die Lebensbedingungen der Bevölkerung durch eine Steigerung des Konsums zu verbessern, was zu einer wachsenden Verschuldung gegenüber dem Westen führte.
Mittags Rückkehr und die Verfestigung der Zentralmacht
Nach einer dreijährigen Phase, in der Werner Krolikowski das Amt des Wirtschaftssekretärs innehatte, kehrte Mittag 1976 überraschend in seine alte Position zurück. Er wurde Vorsitzender der wieder eingerichteten Wirtschaftskommission, die ursprünglich nur eine beratende Funktion ohne eigene Entscheidungsbefugnisse haben sollte. Doch Mittag nutzte dieses Gremium als Instrument seiner Macht. Er ignorierte den Ministerrat, erstellte eigene Resolutionsentwürfe für das Politbüro und die Regierung, oft ohne die Kommission zu informieren, und gab den Ministern direkte Befehle. Untersuchungen nach seiner Absetzung zeigten, dass dies in etwa zwei Dritteln der Fälle geschah.
Mittag trieb die Zentralisierung der Entscheidungsprozesse auf die Spitze. Was in den 70er Jahren noch vom Minister für Materialwirtschaft bis zu einem Wert von 60 Millionen Mark selbst entschieden werden konnte, bedurfte in den 80er Jahren in jedem Fall einer Genehmigung von oben.
Eine Kultur der Angst und Zahlenmanipulation
Mittags Führungsstil war berüchtigt. Sitzungen der Wirtschaftskommission waren von einer „Kultur der Angst“ geprägt. Er unterbrach, beschimpfte und fluchte gegen Minister und Mitarbeiter, verlangte detailliertes Wissen und bestrafte jeden, der ihm die Fakten nicht sofort präsentieren konnte. Nach einer Rüge Honeckers änderte er sein Verhalten, was jedoch nicht zu einer Verbesserung führte: Statt zu brüllen, verletzte er seine Mitarbeiter nun mit Sarkasmus, was diese als schlimmer empfanden.
Um das Bild eines stabil wachsenden sozialistischen Staates aufrechtzuerhalten, manipulierte oder fälschte Mittag Daten systematisch. So wurde beispielsweise die Definition eines Roboters vereinfacht, um höhere Automatisierungszahlen in der Industrie zu suggerieren. Selbst in den späten 1980er Jahren, als die DDR tief in der Krise steckte, ordnete Mittag an, jedes Jahr ein Wirtschaftswachstum von 4% zu verkünden.
Die Beziehung zu Honecker und Mittags unumstrittene Macht
Ein Schlüsselfaktor für Mittags Dominanz war seine enge Beziehung zu Erich Honecker. Honecker, der wenig von Wirtschaft verstand, hatte ein „blindes Vertrauen“ in Mittag, der es verstand, dieses Vertrauen auszunutzen und Honeckers Ego zu stärken. Die beiden gingen sogar gemeinsam auf die Jagd. Dies könnte ein Grund gewesen sein, warum Honecker die Warnsignale der wirtschaftlichen Abwärtsspirale ignorierte und Mittags Beteuerungen, die DDR habe trotz internationaler Krisen eine stabile Wirtschaft, Glauben schenkte.
Mittag war intelligent, schnell denkend und entscheidungsfreudig, was ihm Vorteile verschaffte, selbst bei denen, die ihn nicht mochten. Er schirmte sich gegen Kritik ab und tolerierte keinerlei Einmischung in seine Zuständigkeiten. Trotz seines Jähzorns und seiner skrupellosen Art, die so weit ging, dass er Mitarbeiter physisch angriff und sich nicht um das Schicksal anderer kümmerte, blieb er fest im Sattel. Sein erklärtes Ziel war es, der zweitmächtigste Mann der DDR zu sein, mit dem möglichen Aufstieg zur Nummer eins.
Krankheit, Niedergang und das Ende einer Ära
Mittags unaufhörlicher Arbeitswille wurde durch eine schwere Diabeteserkrankung überschattet. Nach der Amputation eines Unterschenkels 1985 und des anderen 1987 setzte er seine Arbeit fort, verbarg seine Behinderungen und verließ sich auf hochwertige Prothesen aus Japan. Seine Krankheit verstärkte seine Reizbarkeit und Konzentrationsschwierigkeiten, doch Honecker hielt an ihm fest.
Im Sommer 1989, als Honecker operiert werden musste, vertrat Mittag ihn, was zu Verwirrung in der Partei führte. Als Tausende Menschen die DDR verließen, informierte Mittag das Politbüro nicht und gab trotz Aufforderung keine offizielle Erklärung ab. Am 17. Oktober 1989, dem Tag von Honeckers Absetzung, versuchte Mittag noch, die Seiten zu wechseln, doch seine Politbüro-Kollegen lehnten dies ab. Er musste als Wirtschaftssekretär zurücktreten, wurde aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen und im November aus der Partei ausgeschlossen.
In der Woche nach seiner Absetzung zerstörte Mittag Hunderte Kilogramm belastendes Material in den 17 Tresoren seines Büros. Im Dezember 1989 wurde er verhaftet, jedoch aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes oft monatelang nicht verhört. Im August 1990 wurde er entlassen und starb 1994.
Mittags Verteidigung und die Frage der Schuld
In seinem 1991 erschienenen Buch „Um jeden Preis“ stellte Mittag sich als Warner dar, der bereits in den 1970er Jahren vor einer „zu starren, realitätsfernen Ideologie“ gewarnt und Widerstand von allen Seiten erfahren habe. Er beklagte, dass er keine Unterstützung von anderen Politbüromitgliedern für Sparmaßnahmen erhielt. Mittag wies die Schuld verschiedenen führenden Persönlichkeiten zu: Egon Krenz habe das Scheitern des Sozialismus nicht verstanden, Erich Mielke und die Stasi hätten sich zu einem „Staat im Staate“ entwickelt, und Willi Stoph sowie Alfred Neumann hätten sich nicht um moderne Techniken gekümmert und ihn zum Sündenbock machen wollen. Auch Honecker, so Mittag, habe Diskussionen über heikle Themen immer aufgeschoben und sei in seinem Denken verhärtet gewesen.
Diese Darstellung wurde jedoch von Mittags engstem Mitarbeiter, dem ehemaligen Leiter der Staatlichen Plankommission Günter Schürer, in einem späteren Vorwort zu Mittags Buch als zu einem Drittel „Blödsinn“ bezeichnet. Schürer kritisierte, dass Mittag die Schuld bei allen außer sich selbst suchte.
Zudem wurde 1991 bekannt, dass Mittag Anfang der 1980er Jahre den Leiter des Bereichs Kommerzielle Koordinierung, Alexander Schalck-Golodkowski, beauftragt hatte, Grundstücke für seine beiden Töchter zu finden. In Potsdam-Sacrow wurden drei luxuriöse Häuser mit Western-Baumaterialien im Wert von 5 Millionen DDR-Mark errichtet, wofür sonst 40 reguläre Wohnungen hätten gebaut werden können. Mittag behauptete, davon nichts gewusst zu haben.
Günter Mittag trug zweifellos maßgeblich zur Zerstörung der DDR-Wirtschaft bei. Er war ein „Totengräber der DDR“, aber sicherlich nicht der einzige. Erich Honecker und das Politbüro ließen ihn gewähren und teilen somit die Verantwortung, ebenso wie eine lange Liste weiterer SED-Funktionäre. Seine Geschichte ist ein komplexes Geflecht aus Machtmissbrauch, wirtschaftlicher Inkompetenz und persönlicher Tragik, das bis heute die Frage nach der Alleinschuld an einem historischen Versagen offenlässt.