Erich Honecker bricht das Schweigen: Ein Rückblick in Moskauer Isolation (1991)

Moskau, 1991 – Über ein Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) hat Erich Honecker, der ehemalige Staatsratsvorsitzende, aus seiner abgeschirmten Datscha in einem Moskauer Vorort ein Interview gegeben. Das auf zwei Tage verteilte, siebenstündige Gespräch vor der Kamera offenbarte einen Mann, der „immer noch ganz Staatsoberhaupt“ agierte, darauf bedacht, „Erklärungen abzugeben, Positionen zu definieren“, und seine Sicht der jüngsten Geschichte zu verteidigen.

Das Ehepaar Honecker traf in einer schwarzen Limousine und in Begleitung von zwei Leibwächtern ein; Margot Honecker sollte kurz darauf die Sowjetunion in Richtung Chile verlassen. Die Atmosphäre war förmlich, die Erwartungen widersprüchlich. Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit – er befand sich im 80. Lebensjahr und hatte zwei schwere Operationen hinter sich – betonte Honecker, seine Gesundheit sei „soweit wieder hergestellt“, dank deutscher und insbesondere sowjetischer Ärzte.

Rückkehr nach Deutschland und politische Lage in Moskau
Angesprochen auf Spekulationen über seine Zukunft und einen angeblichen Pass seiner Gattin, bestätigte Honecker den Erhalt des Passes seiner Frau durch die Bundesrepublik Deutschland und erklärte: „Ich selbst beabsichtige natürlich, nach Deutschland zurückzukehren.“ Eine unbedingte Voraussetzung dafür sei jedoch die Aufhebung des Haftbefehls gegen ihn, da er nicht die Absicht habe, sich den „Racheengeln“ zur Verfügung zu stellen. Er zeigte sich überzeugt, dass dieser Haftbefehl aufgehoben werde, da die Bundesrepublik Deutschland kein Recht habe, ein ehemaliges Staatsoberhaupt der DDR für Handlungen in Ausübung seines Amtes zu verfolgen. Kontakte zur Deutschen Botschaft in Moskau bestritt er jedoch und kündigte an, seine Kinder in China besuchen zu wollen.

Honecker verneinte jeglichen Druck seitens sowjetischer oder russischer Behörden, das Land zu verlassen. Er habe den Putschversuch in Moskau nur isoliert wahrgenommen und kaum etwas bemerkt. Politisch bewertete er die Ereignisse als Beschleunigung jener Entwicklungsprozesse, die die Sowjetunion von einem sozialistischen zu einem marktwirtschaftlichen, kapitalistischen System katapultieren sollen. Dabei zog er Parallelen zu den „neuen Bundesländern“, um die Schwierigkeiten eines solchen Übergangs zu verdeutlichen. Fragen nach Sympathien für die Putschisten gegen Gorbatschow wich er aus, betonte aber, dass er auf Einladung Gorbatschows in Moskau sei, woraus sich alle Fragen ergäben.

Beobachter des Interviews merkten an, dass Honecker beim Thema Gorbatschow „übervorsichtig“ war und sich bedeckt hielt, da „Eigenschutz vor[ging]“.

Ursachen für den Untergang der DDR: Ein sowjetischer „Verrat“?
Erich Honecker lehnte die Annahme ab, dass die Proteste in Leipzig oder anderswo den Umschwung in der DDR herbeigeführt hätten. Er sprach von einem „großen Irrtum“ und forderte, das „geschichtliche Bild … zurecht[zu]drücken“. Die Hauptursache für den Untergang der DDR sah er in einer angeblichen Änderung der sowjetischen Außenpolitik: Er verwies auf ein Gespräch im Herbst 1984 am Schwarzen Meer, bei dem sich der damalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse und andere darauf geeinigt hätten, alles zu ändern, und Schewardnadse bereits 1986 zu dem Schluss gekommen sei, dass die Existenz der DDR „künstlich und widernatürlich“ sei. Er sah dies als Vorwurf an den damaligen sowjetischen Außenminister, der seine Kollegen in der DDR nicht darüber informiert hatte.

Auf die Frage, warum er die Reformpolitik Gorbatschows nicht auf die DDR übertragen habe, obwohl dies von der Bevölkerung erwartet wurde, erklärte Honecker, er habe „damals schon im großen Ganzen“ gesehen, was eintreten würde. Er habe bereits 1987 in Moskau Anhänger des Zaren und „informelle Gruppen“ demonstrieren sehen und daraus geschlossen, dass die Entwicklung in der Sowjetunion nicht wie vielleicht ursprünglich angelegt, sondern in Richtung Auflösung des Sozialismus gehen würde. Für ihn war das, was in der DDR als „Wende-Beschluss“ vollzogen wurde, „nicht eine Reform, sondern… der Übergang zur Gegenrevolution und zur Annexion der Deutschen Demokratischen Republik durch die Bundesrepublik Deutschland.“

Die Kritik von Markus Wolf, der Honecker 1989 mangelnde Einsicht in Reformnotwendigkeiten bescheinigt hatte, wies Honecker zurück. Er weigerte sich, über den ehemaligen stellvertretenden Minister für Staatssicherheit zu diskutieren, und betonte, Wolf sei damals gekommen, um ihm ein Buch mit einer herzlichen Widmung zu überreichen, nicht um über konspirative Reformpläne zu sprechen. Honecker bekräftigte, die SED sei stets für Revolution und Reformen im Dienste der Revolution gewesen, „aber nicht für Reformen im Dienste der Konterrevolution.“

Ministerium für Staatssicherheit und Grenzregime
Honecker wehrte sich gegen die pauschale Kriminalisierung von Reformbestrebungen als vom Westen gesteuert, betonte aber, dass Botschafterberichte von 1987 über Forderungen nach Akzeptanz der deutschen Zweistaatlichkeit existierten. Damals habe er diese Berichte mit dem Politbüro diskutiert, wobei ihm versichert worden sei, dass dies persönliche Meinungen und nicht die offizielle Haltung der sowjetischen Führung seien. Er beklagte, dass die Enthüllungen nun bestätigten, dass diese Entwicklungen seit 1984 im Gange waren, zum Schaden der DDR und anderer sozialistischer Länder.

Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) bezeichnete Honecker als ein „Ministerium des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik“, das „staatliche Aufgaben zu erfüllen“ hatte. Er distanzierte sich von einer starken Bespitzelung der eigenen Bevölkerung und verwies auf seine eigene Rede vom Februar 1988, in der er sich für „persönliche Freiheit“ und die Einhaltung des Post- und Fernmeldegeheimnisses ausgesprochen habe. Falls das MfS starken Druck ausgeübt habe, habe es „nicht die Aufgaben erfüllt, die ihm oblagen“.

Besonders bemerkenswert waren Honeckers Äußerungen zur Größe des MfS: Er verurteilte die gegenwärtige „Hesse gegen die Mitarbeiter von Staatssicherheit“ als Ablenkung. Er behauptete, in keiner Sitzung des Verteidigungsrates oder des Politbüros seien Fragen zur Struktur oder zum Personalbestand des MfS behandelt worden. Er selbst habe die Größe des Ministeriums „immer … so ungefähr 30.000 bis 35.000“ eingeschätzt, basierend auf einer Diskussion mit dem damaligen Minister Wolf zu Beginn seiner Tätigkeit. Auf die Frage, ob sich das Amt dann vervierfacht habe, antwortete er: „Das weiß ich nicht und das weiß auch hier, wie ich gelesen habe, Herr Wolf nicht.“ Er schien anzudeuten, dass Mielke Informationen zurückgehalten hatte.

Zum Thema der Unterschlupfgewährung für RAF-Mitglieder in der DDR verlas Honecker eine vorbereitete Erklärung, wonach er und die DDR-Regierung davon nichts gewusst hätten und dies ein Alleingang einzelner Stasi-Offiziere gewesen sei. Er hätte dies unterbunden, wenn er davon gewusst hätte.

Die Verantwortung der Grenzsoldaten, die im vereinten Deutschland vor Gericht standen, verteidigte Honecker vehement. Er betonte, jeder Staat habe das Recht, „in den inneren und äußeren Fragen selbst zu entscheiden“. Er stellte in Frage, ob jeder Amerikaner die USA verlassen könne, und bezeichnete die Inhaftierung der Grenzsoldaten, die „nichts anderes getan, als ihre Pflicht getreu ihrem Eid zu verwirklichen“, als „Skandal“. Das 1982 verabschiedete Grenzgesetz der DDR und die angeblichen Liberalisierungen des „Grenzregimes“ hätten die Zustimmung der Blockparteien erhalten.

Wichtige Persönlichkeiten und der Rücktritt
Alexander Schalck-Golodkowski, Staatssekretär für Außenhandel, lobte Honecker für seine „sehr verantwortliche Tätigkeit“ bei der Beschaffung von Devisen für die DDR außerhalb des Haushalts. Er verurteilte die Unterstellung, Franz Josef Strauß sei ein „Einflussagent“ des MfS gewesen, als „unwürdig“ und „absurd“. Strauß sei ein „echter Bayer“ gewesen, der eine entscheidende Rolle in der deutschen Politik spielen wollte.

Den 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 erinnerte Honecker als „einen großen Höhepunkt“. Er wies Gorbatschows berühmtes Zitat „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ zurück; dieses sei „vollkommen falsch verstanden“ worden und habe sich auf die Entwicklung in der Sowjetunion bezogen, nicht auf die DDR. Er behauptete, nichts von den gewaltsamen Protesten vor dem Palast der Republik am Abend des Empfangs gewusst zu haben, und bezeichnete sie als „organisierte Sache“.

Seinen eigenen Rücktritt am 17. Oktober 1989 stellte Honecker als einen solchen dar: „Ich bin zurückgetreten, weil ich mit dem Wendebeschluss nicht einverstanden war.“ Er verwies darauf, dass das ZK der SED und die Volkskammer ihm für seine Tätigkeit an der Spitze von Partei und Staat gedankt hätten. Die Schilderungen von Politbüro-Mitgliedern wie Krenz, Schabowski und Mittag, die in westlichen Medien veröffentlicht wurden, waren ihm größtenteils nicht bekannt, er lehnte sie ab. Zudem behauptete er, einige der ihm zugeschriebenen „berühmten Unterschriften EH“ seien „gefälscht“. Er war überzeugt: „Wenn alles nach meinem Willen gelangen wäre, dann würde die Deutsche Demokratische Republik heute noch bestehen.“

Ungebrochener Glaube an den Sozialismus
Trotz allem zeigte sich Erich Honecker fest in seinen Überzeugungen verankert. Die Interviewer beschrieben ihn als „vereinsamten, alten Mann, erstarrt in seinen Überzeugungen“, dessen „Ideologie… längst zum Glauben geworden, zum Panzer, an dem jede Kritik abprallt“. Honecker schwärmte von den noch verbliebenen sozialistischen Ländern: „Die Volksrepublik China… das tapfere Vietnam… und wir haben auch den Leuchtturm in Lateinamerika, das tapfere Kuba“. Für ihn „existiert der Sozialismus als solcher real noch“, und die wissenschaftlich begründete Idee von Marx, Engels, Lenin und Mao Zedong könne „durch zeitweise Rückschläge“ nicht wackeln.

Honecker nutzte das Interview auch, um ausführliche, vorformulierte Erklärungen abzugeben, die er als „Vertiefungen“ bezeichnete, und sah das Gespräch als „Bild- und Tondokument für die Geschichte“. Er schloss mit der Hoffnung, dass die Berliner Justiz nicht „ein zweites Mal die Möglichkeit erhält, mich auch nur einen Tag dort festzuhalten“.