„Zur See“: Wie der Osten das Traumschiff erfand

Im Sommer 1974 stach ein Fernsehprojekt in See, das die Zuschauer in der DDR und sogar im Westen begeistern sollte: die TV-Serie „Zur See“, gedreht an Bord des Ausbildungsschiffs „Johann Gottlieb Fichte“. Was heute als „zeitloses“ Kritikerformat und „größter Wurf des DDR-Fernsehens“ gilt, war eine achtwöchige Drehreise voller Herausforderungen, politischer Überwachung und unvergesslicher Geschichten.

Die „Fichte“: Ein „Schrottlieb“ mit Geschichte
Die Wahl des Drehorts war bereits ein Kompromiss. Produzenten wie Regisseur Wolfgang Luderer wollten ursprünglich das neueste und modernste Schiff der Flotte, die „Karl Marx“ oder „Friedrich Engels“, nutzen, die klimatisiert waren und über 20 Knoten liefen. Doch die „Johann Gottlieb Fichte“, ein alter Dampfer aus zweiter Hand, der bereits in den 60er Jahren erworben wurde und einst als französischer Truppentransporter diente, hatte den benötigten Platz für die rund 30-köpfige Filmcrew. Bei Seeleuten war das Schiff wegen seines Zustands liebevoll als „Schrottlieb Fichte“ bekannt. Der Matrose Jürgen Schumann beschrieb das Schiff sogar als „Fehler“ und teilweise „auf Bewährung“.

An Bord waren die Lebensbedingungen für die Schauspieler teils beengt und hart: Koch Bern Storch und Bootsmann Jürgen Zartmann wohnten vorne unter dem Bug, oft direkt auf oder unter dem Wasser, was bei Seegang, besonders in der Biskaya bei Windstärke 11, zu starker Übelkeit führte. Das Schwimmbecken an Bord entleerte sich durch einen Riss in die Offiziersmesse, und in Kuba herrschte in den Kabinen „Affenhitze“, da es keine Klimaanlage gab.

Eine Reise voller unvorhergesehener Ereignisse
Die Reise der „Fichte“ führte von Rostock nach Havanna und zurück. Ursprünglich sollte die Route über Schweden nach Mexiko und Kuba verlaufen, doch das DDR-Fernsehen erwirkte eine direkte Fahrt, was auch der Staatssicherheit sehr wichtig war. Dennoch kam es zu einem ungeplanten Stopp: Kurz nach dem Ablegen versagte ein Hilfsdiesel, was Kapitän Horst Rinder dazu zwang, aus Sicherheitsgründen den nächsten Hafen Aalborg in Dänemark anzulaufen. Dort durften die Filmleute drei Tage an Land gehen und einkaufen, obwohl die Spesen mit 10 D-Mark pro Mann und Tag denkbar knapp kalkuliert waren. Chefbeleuchter Hans-Gerhard Veit brachte seiner Tochter von dort einen kleinen Radiergummi mit, ein unvorstellbares Mitbringsel in DDR-Zeiten.

Die Dreharbeiten selbst waren extrem fordernd. Das Team musste das Material für neun Folgen in nur neun Wochen aufnehmen, da das Schiff nur für diese eine Reise zur Verfügung stand. Regisseur Wolfgang Luderer nutzte jeden möglichen Drehtag voll aus, und es wurde täglich die doppelte Menge an Filmmaterial gedreht wie im Studio zu Hause. Dabei mussten unberechenbare Faktoren wie Wetter, Sonneneinstrahlung und Wellengang berücksichtigt werden.

Realität und Fiktion: Konflikte an Bord und kuriose Geschichten
Die Serie zeichnete sich durch die Darstellung realer Konflikte aus, insbesondere zwischen „oben und unten“, Brücke und Maschine, die die Zuschauer fesselten. Die spektakulärste und meistdiskutierte Szene war der Kolbenwechsel bei schwerem Seegang. Diese Geschichte basierte auf einem realen Vorfall mitten im Schwarzen Meer, als ein Kolben stillgelegt werden musste und das Schiff eigentlich hätte abgeschleppt werden müssen.

Auch kuriose Begebenheiten flossen in die Drehbücher ein. Eine davon war die Geschichte der zwei Bullenkälber „Max und Moritz“, die als „blinde Passagiere“ an Bord waren. Diese Tiere wurden seekrank und bereiteten dem Team Verdruss. Requisiteur Harald Meyer, der nebenbei auch Tierpfleger war, musste extra frische Möhren für sie besorgen. Kurz vor Kuba wurden die Bullen geschlachtet und bei einem großen Grillfest von der gesamten Besatzung verzehrt.

Eine weitere feste Tradition auf DDR-Handelsschiffen, die in der Serie inszeniert wurde, war die Äquatortaufe. Hierfür wurden viele Statisten aus der echten Mannschaft rekrutiert, die dafür 720 Mark erhielten – genug, um die Getränkerechnung für die ganze Reise zu decken. Jürgen Zartmann spielte dabei nicht nur den Bootsmann und Parteisekretär, sondern auch den Meeresgott Neptun.

Die Staatssicherheit: Ein ständiger Schatten
Die gesamte Produktion stand unter genauer Beobachtung der Staatssicherheit und der Kaderabteilungen des DDR-Fernsehens und der DSR. Die Überprüfung der politischen Zuverlässigkeit verzögerte den Drehbeginn sogar um ein ganzes Jahr. Die übliche Angst war die „Republikflucht“. Bestimmte Mitglieder der Aufnahmegruppe, darunter Regisseur Wolfgang Luderer, sollten während der Reise „operativer Kontrolle“ unterliegen. Luderer geriet sogar ins Visier, weil er seine Lebensgefährtin als Regieassistentin mit ins Ausland nehmen wollte, was die Stasi als „politisch operativ“ bewertete und die Einstellung des gesamten Filmvorhabens empfahl. Als seiner Freundin die Nachreise nach Havanna verwehrt wurde, drohte Luderer sogar, die Dreharbeiten einzustellen.

Die Serie sollte auch als Werbefilm dienen, da die DSR permanent Personal suchte – nicht weil niemand zur See fahren wollte, sondern weil zu wenige die strengen Überprüfungen bestanden.

Ein „Straßenfeger“ mit West-Charme
Trotz aller Widrigkeiten wurde „Zur See“ ein riesiger Erfolg und zu einem „Event“ in der DDR. Es war ein „Straßenfeger“, der selbst West-Seher vom „Ochsenkopf“ (West-Fernsehen) weglockte. Viele Zuschauer schätzten, dass die Serie „endlich etwas ohne Politik“ war. Wolfgang Rademann, der verstorbene West-Berliner Filmproduzent des „Traumschiffs“, bekannte sich als begeisterter Fan von „Zur See“ und ließ sich für seine eigene Erfolgsserie von ihr inspirieren. Jürgen Zartmann war sogar der einzige Schauspieler, der auf beiden „Traumschiffen“ – der „Fichte“ und dem ZDF-„Traumschiff“ – anheuerte. Während „Zur See“ die realen Geschichten der Seefahrer und ihre harte Arbeit beleuchtete, konzentrierte sich das „Traumschiff“ auf Liebesgeschichten und den Reichtum an Bord.

Heute, 40 Jahre nach seiner Erstausstrahlung, hat „Zur See“ nichts von seinem Reiz verloren. Es wird immer noch verlangt, und bei Seemannstreffen erklingt die Titelmelodie. Es ist ein „gutes Zeitdokument“ der 70er Jahre, das Einblicke in den Alltag auf hoher See und die spezifischen Verhältnisse in der DDR bietet.

Die Geschichte der „Fichte“ und ihrer Filmcrew ist wie eine Flaschenpost aus einer vergangenen Zeit. Sie trägt nicht nur spannende Geschichten über Abenteuer und Widrigkeiten mit sich, sondern auch die subtilen Botschaften und Zwänge einer Gesellschaft, die das Fernweh ihrer Bürger im Zaum halten musste, während sie ihnen gleichzeitig die weite Welt vor Augen führte. Ein echtes Stück Fernsehgeschichte, das immer noch nachklingt.

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