Die Welt der Geheimdienste ist für die meisten von uns ein undurchsichtiges Geflecht aus Verschwiegenheit und verdeckten Operationen. Doch wer sind die Menschen, die in diesem Schattenreich agieren, und wie sieht ihr Alltag aus? Leo Martin, ein ehemaliger Geheimagent und Verfassungsschützer, gewährt einen seltenen Einblick in seine frühere Tätigkeit und enthüllt die komplexen Herausforderungen und psychologischen Belastungen dieses hochsensiblen Berufs.
Vom Polizisten zum Agenten: Ein ungewöhnlicher Werdegang Leo Martin, dessen wahrer Name streng geheim ist – „den kennt nur das Finanzamt“ –, beschreibt seinen Weg zum Geheimagenten als eine klassische Polizeiausbildung, gefolgt von einem Angebot des Innenministeriums. Er entschied sich für ein Studium der Kriminalwissenschaften und die Spezialisierung als Operateur beim Verfassungsschutz. Seine Faszination galt dabei stets dem „Blick hinter die Kulissen“ und den „Abgründen der menschlichen Psyche“.
Was macht ein Verfassungsschützer? Ein Verfassungsschützer ist ein Beamter im öffentlichen Dienst, angesiedelt unter dem Innenministerium, entweder bei einem Landesamt für Verfassungsschutz oder dem Bundesamt für Verfassungsschutz. Ihre Kernaufgabe ist die Erhebung und Auswertung von Informationen, die auch verdeckt gewonnen werden dürfen, beispielsweise durch den Einsatz technischer Mittel oder – und hier liegt Martins Spezialgebiet – durch V-Leute, also menschliche Quellen. Der Auftrag umfasst die Beobachtung und Abwehr extremistischer Organisationen (Links-, Rechts- oder Ausländerextremismus), die Spionageabwehr und in einigen Bundesländern auch die Bekämpfung der organisierten Kriminalität.
Das Herzstück der Arbeit: Der Umgang mit V-Leuten Als Operateur besteht Martins Alltag hauptsächlich aus der Führung von V-Leuten, von denen er je nach Einsatzgebiet fünf bis zwölf gleichzeitig betreuen konnte. Diese wurden ein- bis dreimal pro Woche getroffen.
• Der erste Kontakt: Leo Martin legte beim ersten Kontakt „relativ schnell die Karten auf dem Tisch“. Er offenbarte, dass er für den Nachrichtendienst arbeitet, bot eine Zusammenarbeit an und zeigte gleichzeitig „Innenseiter Wissen“ über die Zielperson, um sie zur Mitarbeit zu motivieren. Dies führte zu einer „Schocksituation“, in der die Zielperson das Bedürfnis entwickelte, Sicherheit zurückzugewinnen und herauszufinden, „was wissen die wirklich, was wollen die wirklich“.
• Vertrauensaufbau: Entscheidend war, dass der V-Mann das Erlebnis macht, dass Informationen, die er liefert, niemals zu seinem Nachteil führen. Zunächst wurden Informationen über Konkurrenzorganisationen abgegriffen, bevor der V-Mann in einem Moment der Schwäche (z.B. bei ungerechter Behandlung innerhalb der eigenen Organisation) erstmals Informationen aus seiner eigenen Gruppe herausgab. Dieser Prozess, so Martin, funktioniere „erstaunlich schnell“.
• Motivation jenseits des Geldes: V-Leute werden nicht reich. Sobald Informanten merken, dass ihre Informationen mit Geld abgegolten werden, neigen sie dazu, Geschichten zu erfinden, die „immer wilder“ und „immer spannender“ werden, aber nicht der Realität entsprechen. Daher war es entscheidend, den V-Mann „weg vom Geld […] hin zur Beziehung“ mit dem Operateur zu bringen, sodass er es „für mich tut“.
• Unterschiede bei Extremisten: Die Arbeit in der linken Szene, die „antiautoritär“ und „antistaat“ ist, unterscheidet sich fundamental von der Arbeit in der rechten Szene. Während im linken Milieu oft Personen in die Organisation eingeschleust und dort aufgebaut werden müssen, ist es im rechten Bereich, der einen „starken Staat“ bevorzugt, einfacher, jemanden „herauszubrechen“ und anzuwerben.
• Informationsbewertung: Informationen werden niemals ungeprüft übernommen, sondern jede Information von jedem V-Mann wird auf zwei Ebenen bewertet: die Zuverlässigkeit des V-Mannes und die Verifizierbarkeit der einzelnen Informationen. Berichte gehen erst dann nach außen, wenn sie von zwei, besser drei Quellen bestätigt wurden.
Der Alltag eines Agenten: Zwischen Alibi und Isolation Als Alibi-Beruf diente Leo Martin die Bezeichnung „Projektmanager“. Diese Legende ist flexibel gestaltbar und erfordert außer Methodenwissen „im Zweifelsfall nichts“, was das Risiko minimierte, bei Fachfragen aufzufliegen.
Der Preis für diese Geheimhaltung war jedoch hoch:
• Einschränkungen im Privatleben: Freunde wurden weniger, und die Fähigkeit, Verpflichtungen einzugehen, litt massiv, da Einsätze unplanbar sind. Selbst Martins Mutter erfuhr erst nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst von seiner wahren Tätigkeit.
• Partner als einzige Ausnahme: Die einzige Person, die die Art des Berufs erfahren durfte, war der Partner. Allerdings wurden auch hier keine konkreten Fälle, Namen oder Zahlen besprochen, um „Kopfkino“ und „morgen Drama“ zu vermeiden.
Das Dilemma: Verfassungsschutz und Polizei Ein ständiges „Spannungsfeld“ besteht zwischen Verfassungsschutz und Polizei. Die Polizei unterliegt dem „Legalitätsprinzip“, muss also bei Kenntnis einer Straftat einschreiten. Der Verfassungsschutz hingegen arbeitet nach dem „Opportunitätsprinzip“, das ihm einen gewissen Ermessensspielraum einräumt. Das bedeutet, bei „relativ einfachen Delikten“ können Geheimdienste „wegschauen“, um ihre V-Leute zu schützen, während die Polizei einschreiten müsste. Diese unterschiedlichen Herangehensweisen führen zu Reibungen, die jedoch „in einem gewissen Niveau“ managbar seien und vom Rechtsstaat so vorgesehen.
Der NSU-Fall: Warum der Verfassungsschutz scheiterte Die Frage, wie der NSU „unter den Augen des Verfassungsschutzes passieren“ konnte, beantwortet Leo Martin mit der Struktur der Gruppe: Die Kernkompetenz der Landesämter für Verfassungsschutz ist es, in „bewusst abschottende Organisationen“ einzudringen, die ein „großes Netzwerk“ und geteilte Werte haben. Der NSU war jedoch eine kleine Gruppe von drei Personen, die ihre Taten nicht nach außen bekannt machte, was sie „relativ schwierig zu detektieren“ machte. Trotz umfangreicher polizeilicher Ermittlungen in verschiedenen Bundesländern war der NSU „besser, stärker, cleverer, gewiefter unterm Radarf“ und hatte bis zum Ende an vielen Stellen „Glück“.
Keine moralischen Konflikte und spezielle Ausrüstung Leo Martin betont, dass er in seinen zehn Jahren Dienst „nie und zwar kein einziges Mal über eine moralische Hürde springen“ musste und jede Nacht gut geschlafen habe, da er V-Leute führte, um „unsere Rechte und Freiheiten zu schützen“. Die spionage-technische Ausrüstung eines Agenten ist oft unspektakulärer als gedacht. Abgesehen von verdeckten Kameras in Knopflöchern oder Taschen waren es oft simple Hilfsmittel wie ein Klebestreifen, um eine Tür offen zu halten, oder Werkzeuge zur Reparatur kleiner Defekte.
Zusammenfassend lässt sich die Arbeit eines Geheimagenten als ein ständiger Drahtseilakt beschreiben, bei dem das Erlangen und Bewerten von Informationen durch menschliche Quellen im Mittelpunkt steht, während gleichzeitig ein extrem hohes Maß an Geheimhaltung und psychologischer Belastbarkeit gefordert wird. Es ist wie das Arbeiten in einem Labyrinth mit unsichtbaren Wänden: Man muss die Wege kennen, die Fallen umgehen und das Vertrauen derer gewinnen, die selbst im Verborgenen agieren, um die Sicherheit des Ganzen zu gewährleisten.