Im Jahr nach dem Mauerfall, als die Euphorie der wiedererlangten Freiheit auf ihren Höhepunkt zusteuerte, kippte die Stimmung vielerorts dramatisch. Was als „Ende der deutsch-deutschen Brüderlichkeit“ begann, entwickelte sich schnell zu einem erbitterten Kampf um Grund und Boden. Rund eine Million Westdeutsche forderten ihre Grundstücke zurück, die sie in der DDR-Zeit verlassen oder verloren hatten. Für viele Ostdeutsche, die oft Jahrzehnte in den Häusern gelebt, sie saniert und aufgebaut hatten, war dies der Beginn einer tiefen Verunsicherung und existentiellen Angst.
Das Prinzip „Eigentum ist Eigentum“ trifft auf DDR-Realität
Das Kernproblem lag in den fundamental unterschiedlichen Eigentumsvorstellungen von Ost und West. Während in der Bundesrepublik das Grundbuch die maßgebliche Wissensressource für den Eigentümer war, konnten in der DDR Grundstücke eigentlich nicht gekauft werden – nur die Häuser darauf. Dies entsprach der staatsozialistischen Eigentumsideologie, die keine Kapitalmehrung zulassen sollte. Viele DDR-Bürger hatten von der kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV) Nutzungsrechte für Grundstücke erhalten und darauf Häuser gebaut, oder sie hatten Häuser gekauft, ohne das Land zu besitzen.
Die Altbesitzer aus dem Westen hingegen sahen die Lage klar: „Eigentum ist Eigentum und wenn sie es nicht erworben haben dann ist es nicht ihr Eigentum“. Für sie zählten die alten Besitztitel und Erbscheine, die plötzlich zu Kostbarkeiten wurden. Dieses Aufeinandertreffen führte oft zu unfreundlichen Begegnungen und dem Gefühl, als „Sklaven“ behandelt zu werden.
Einige exemplarische Schicksale:
• Familie Türke aus Falkensee: Lebte seit 1965 in einem Haus zur Miete und hatte es 25 Jahre lang wie ihr Eigentum behandelt, alle Reparaturen ausgeführt und sogar Garagen gebaut. Der Altbesitzer, der in Westberlin lebte, forderte sein Eigentum zurück. Trotz getätigter Investitionen von den Türkes, mussten sie ausziehen und erhielten 60.000 D-Mark Entschädigung für die Umbauten und Garagen. Sie bauten sich mit 60 Jahren ein neues Haus, um nie wieder einen Eigentümer zu haben.
• Familie Klucke aus Rangsdorf: Zog 1973 in ein Haus und kaufte es 1988 von der Stadt, inklusive eines unbefristeten Nutzungsrechts für das Grundstück. Sie investierten rund 70.000 Mark in Sanierungen, da die kommunale Wohnungsverwaltung sich außer Stande erklärte, dies zu tun. Der Brief des alten Eigentümers aus Osnabrück traf sie hart, besonders der Vergleich mit Enteignungen in der NS-Zeit empörte sie.
• Klaus-Jürgen Warnick aus Kleinmachnow: Kaufte 1971 einen Garten mit Holzschuppen und baute diesen sukzessive zu einem Einfamilienhaus um. Sein Kaufvertrag von 1971 war „völlig formlos“ und wurde plötzlich für wertlos erklärt. Er musste schließlich 300.000 Mark zahlen, um das Grundstück zu kaufen, das er seit 30 Jahren bewohnte und in das er seine gesamte Arbeitskraft und sein Geld gesteckt hatte. Er nahm dafür das erste Mal in seinem Leben einen Kredit auf.
Bürokratisches Chaos und emotionale Zerrissenheit
Die Klärung der Eigentumsverhältnisse war eine Sisyphusarbeit:
• Überfüllte Grundbuchämter: Überall im Land kam es zu einem Run auf die Liegenschaftsämter. Die Grundbücher waren teils in einem „erbärmlichen Zustand“, mit fehlenden Seiten, Zersetzungen und Schwärzungen, die die ursprünglichen Eigentümer unkenntlich machten. Die Mitarbeiter arbeiteten mit Karteikarten, ohne Computer oder Kopiertechnik.
• Gesetzliche Unsicherheit: Die sogenannten Modrow-Gesetze vom März 1990 sollten DDR-Bürgern ermöglichen, ihre Grundstücke vor der Wiedervereinigung preiswert zu erwerben. Doch die Immobilienpreise stiegen am Berliner Stadtrand so schnell an, dass ein Vorkaufsrecht oft utopisch und unbezahlbar war.
• Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“: Diese Regelung, von westdeutscher Seite favorisiert und von der Sowjetunion mitgetragen (insbesondere für Enteignungen vor 1945, wie die Bodenreform, bei der Adlige und Großgrundbesitzer über 100 Hektar verloren hatten), bedeutete, dass das Eigentum an die Altbesitzer zurückgegeben wurde, bevor die aktuellen Bewohner eine Entschädigung erhielten.
• Die Brandstiftung: Im April 1993 wurde das zentrale Grundbucharchiv in Barby an der Elbe, wo sich 14,5 Kilometer Akten stapelten, in Brand gesetzt. 400 laufende Meter Akten wurden beschädigt; die Täter wurden nie ermittelt.
Die Unsicherheit war immens. Der Finanzdezernent von Leipzig beschrieb die Situation als „Wildost – jeder kann machen was er will“, da niemand genau wusste, wem die Stadt gehörte. Auch die internationale Presse interessierte sich für das Thema.
„Ossi“ gegen „Wessi“: Eine tiefe Spaltung
Die Auseinandersetzungen um die Immobilien trugen maßgeblich zur Entstehung der Narrative von „Jam Ossi“ und „Besserwessi“ bei. Westdeutsche Altbesitzer wurden oft als arrogant und überheblich wahrgenommen. Das Gefühl, dass Ostdeutsche nichts zu sagen hätten, weil sie aus dem Osten kamen, war weit verbreitet. Die Bürger beklagten, dass man ihnen das Wenige, was ihnen geblieben war, auch noch wegnehmen wollte. Dies führte zu Wut und dem Gefühl, wieder benachteiligt zu werden und keine Rechte zu haben. Manche empfanden die Methoden der Altbesitzer als „stalinistisch“.
Insgesamt gingen bei den zuständigen Ämtern über 2 Millionen Anfragen auf Rückübertragung ein. Doch nur etwa 22% dieser Anträge hatten letztlich Erfolg. Für viele der betroffenen Hausbesitzer in der ehemaligen DDR waren die Monate nach dem Mauerfall eine „schwerste Zeit ihres Lebens“, deren Nachwirkungen bis heute spürbar sind. Es war ein Prozess, der die deutsch-deutsche Einigkeit auf eine harte Probe stellte und tiefe Wunden hinterließ.