Christoph Hein, eine einst zentrale Figur der DDR-Literaturszene, hat mit seinem jüngsten Roman „Das Narrenschiff“ einen gewichtigen Band vorgelegt, der das etablierte Geschichtsbild der Deutschen Demokratischen Republik herausfordern will. In einer Zeit, in der der öffentliche Raum laut Hein erneut von Propaganda und Zensur beherrscht werde, schickt sich der über 80-jährige Autor an, die Geschichte neu zu schreiben.
Hein sieht sich dabei in einer langen Tradition von Romanschreibern wie Homer, Tolstoi oder Dostojewski, die seiner Meinung nach schon immer dafür zuständig waren, Geschichte zu schreiben. Historiker hingegen seien, so Hein (ohne direkt Institutionen wie die Enquete-Kommissionen oder die Gauck-Behörde zu nennen), immer Opfer politischer Einflussnahme. Er stellt die These auf, dass mit viel politischem und steuerlichem Geld ein ganz bestimmtes DDR-Bild im kollektiven Gedächtnis festgeschrieben wurde, verdichtet auf Schlagworte wie Diktatur, Mauer, Stasi, Totalüberwachung und Mangelwirtschaft.
Dieses offizielle Bild stimme nur bedingt mit den Wirklichkeiten in der DDR und den Erinnerungen der allermeisten Bürger überein. Während eine kleine Gruppe von Menschen, die in der DDR verfolgt oder zur Ausreise gezwungen wurden, dieses Bild bestätigen mag, betreffe die Totalüberwachung nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung. Michael Beleites, ein Biologe und ehemaliger Stasi-Unterlagenbeauftragter in Sachsen, schätzt, dass 96% der DDR-Bürger nichts mit dem Überwachungsapparat zu tun hatten. Er beziffert die Zahl der aktiven Überwacher und der Opfer von Zersetzung auf jeweils etwa 2%. Die Autorin Daniela Dahn spricht von 80% der DDR-Bürger, die ihrer Meinung nach nichts mit Staatssicherheit und Überwachung zu tun hatten.
Hein selbst wies bereits 2019 in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung auf das Missverhältnis zwischen persönlicher Erinnerung und offizieller Erinnerung hin. Dabei kritisierte er den Oscar-gekrönten Film „Das Leben der anderen“ scharf. Obwohl er nach eigenen Angaben Vorbild für die Schriftstellerfigur im Film war und dem Regisseur über seine Erfahrungen berichtete, erkannte er seine Geschichte im fertigen Film nicht wieder. Hein bezeichnete den Film als „Gruselmärchen“, das nichts mit der DDR der 1980er Jahre zu tun habe und eher an Mittelerde erinnere. Er beschreibt eine Episode, in der Studenten die Erinnerungen eines Professors an Hein für falsch hielten, weil diese nicht mit dem übereinstimmten, was sie im Kino gesehen hatten. Hein zieht daraus die Quintessenz, dass er als Zeitzeuge seine Erinnerungen offenbar an das anpassen müsse, was im Film erzählt wurde. Der Oscar für „Das Leben der anderen“ sei kein Zufall, sondern der Wunsch von „Erinnerungs-“ und „Gedächtnisarbeitern“ auf Steuertöpfen gewesen, einen Gegenpol zu spielerischeren Filmen wie „Good Bye, Lenin!“ und „Sonnenallee“ zu setzen.
Im „Narrenschiff“ greift Hein tief in die DDR-Geschichte ein und bietet alternative Interpretationen bekannter Ereignisse:
• Der Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker: Dieser Übergang, der in der Literatur oft mit Moskauer Einfluss (insbesondere Breschnjews Unterstützung für Honecker) erklärt wird, wird bei Hein zu einem regelrechten Drama. Erich Honecker soll mit bewaffneten Sicherheitsleuten Walter Ulbricht in dessen Wohnsitz aufgesucht, Ulbrichts Leibgarde entwaffnet und ihn mit vorgehaltener Waffe gezwungen haben, eine Rücktrittserklärung zu unterschreiben. Hein beruft sich dabei auf Markus Wolf, den ehemaligen Chef der Auslandsaufklärung der Staatssicherheit (im Roman als Markus Fuchs auftauchend), der ihm diese Geschichte Anfang der 70er Jahre erzählt habe.
• Der Mauerbau: Anders als in den meisten Geschichtsbüchern dargestellt, sei der Mauerbau bei Hein eine Idee aus Washington. Die Romanfiguren, nahe der DDR-Spitze, spekulieren seit den späten 1950er Jahren über eine Schließung der Grenze, um die Abwanderung („Brain Drain“) zu stoppen. Sie fürchten jedoch eine Reaktion Moskaus und der USA. Laut Hein fährt ein hoher US-Gesandter nach Moskau und signalisiert Zustimmung zum Mauerbau, da die Bundesrepublik durch die Abwanderung destabilisiert werde. Moskau zweifele zunächst, doch als US-Präsident Kennedy einen Topdiplomaten im Fernsehen eine Mauer als „keine schlechte Idee“ bezeichnen lässt, gibt Moskau grünes Licht, und die SED setzt die vorbereiteten Maßnahmen schnell um.
• Die Ostgebiete: Christoph Hein deutet an, dass die SED über den Gründungstag der DDR hinaus an der Idee festhielt, dass die früheren deutschen Ostgebiete wie Pommern und Schlesien zur DDR gehören sollten. Das Argument sei gewesen, dass die kleine DDR ohne diese Gebiete im Konkurrenzkampf mit der Bundesrepublik nicht lebensfähig sei. Wiederholte Vorstöße in Moskau bei Stalin seien jedoch abgewiesen worden, da Polen für Gebiete im Osten Polens entschädigt werden müsse. Die Festschreibung der Oder-Neiße-Friedensgrenze sei für 10 bis 12 Millionen Ostvertriebene ein schwerer Schlag gewesen. Eine Figur im Buch bemerkt: „Landraub verheilt nie“.
Im Zentrum des Romans stehen vier zentrale Figuren, deren Leben exemplarisch für die Aufbaugeneration der DDR erzählt werden. Sie werden nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt und sterben fast alle 1989. Laut Hein trägt die Generation, die in den späten 40ern und frühen 50ern an die Schaltstellen kam, die DDR und ist 1989 altersmäßig und intellektuell am Ende. Die Figuren – ein Bergbauingenieur, seine Frau, ein Ökonomieprofessor und ein jüdischer Intellektueller – verkörpern unterschiedliche Wege der Anpassung und des Überlebens im System. Der Bergbauingenieur durchläuft die Phasen vom Fahrradarbeitersohn im Ruhrgebiet über den strammen Nazi, der bis vor Moskau marschiert, bis zum überzeugten Kommunisten, der selbst nach Degradierung seinen Glauben nicht verliert. Seine Frau heiratet ihn aus Versorgungsgründen, da er Sicherheit und Wohlstand bieten kann. Sie macht eine bemerkenswerte Karriere von der Schreibkraft zur Verantwortlichen für die Kinderfilmproduktion, tritt in die Partei ein und wird Aufpasserin.
Ein zentrales Motiv bei Hein ist die Anpassung („Anpassung führt zur Sicherheit“). Dies sei, so die Interpretation im Quelle, ein Muster, mit dem Hein die DDR erklärt und das auch auf die Gegenwart übertragbar sei. Wer in der heutigen Gesellschaft seine Position halten oder sozialen Aufstieg erreichen wolle, müsse sich anpassen und auch mal vorgegebene Formeln nachbeten.
Der jüdische Intellektuelle Kuckuck, eine international bekannte Kapazität, tut sich schwer. Er war während der NS-Zeit bei den Exilkommunisten in Großbritannien und kehrt nach Deutschland zurück. Hein erzählt am Beispiel dieser Figur, wie schwierig es für Intellektuelle war, die nicht bereit waren, den Preis der Anpassung zu zahlen, in einem der deutschsprachigen Länder Fuß zu fassen. Obwohl er in der DDR eine Professur versprochen bekommt, wird er hingehalten, da er als „unsicherer Kantonist“ gilt, möglicherweise wegen seiner Vergangenheit in Großbritannien oder seiner Homosexualität. Er wird schließlich Chef der Kinderfilmbehörde, obwohl er sich nicht dafür interessiert, und bekommt die aufgestiegene Schreibkraft als Aufpasserin zur Seite gestellt. Versuche, in der Bundesrepublik, der Schweiz oder Österreich eine Professur zu bekommen, scheitern ebenfalls an seiner kommunistischen Vergangenheit.
Der vierte Charakter, ein Wirtschaftsprofessor, kommt direkt aus dem Moskauer Hotel Lux, dem Wohnheim der Kommunistischen Internationale. Er weiß um die Geschehnisse dort, hat aber ein feines Gespür dafür entwickelt, was im System möglich ist, ohne seine Position zu verlieren. Als Mitglied des ZK der SED weiß er um die Direktiven von Ulbricht und Honecker und rät seinen Freunden zum Lavieren, um ihren bescheidenen DDR-Wohlstand nicht zu verlieren.
Alle diese Hauptfiguren sind laut Hein 1989 am Ende; niemand könnte das Experiment DDR verteidigen oder für das Land einstehen, um eine Übernahme durch die Bundesrepublik zu verhindern. Hein zeichnet damit ein Bild der DDR, das die Führung nicht als Kriminelle, sondern als Narren darstellt, die auf einem von Anfang an manövrierunfähigen Schiff reisten – das Unternehmen DDR sei zum Scheitern verurteilt gewesen.
Neben diesen zentralen Figuren und Ereignissen finden sich im Roman auch Details zur späten DDR-Wirtschaft, etwa der Tauschkurs von 10 Ostmark zu 1 Westmark auf dem Weltmarkt, der laut dem Ökonomieprofessor bei einem Fluten der Wechselstuben mit Milliarden schnell auf 1:15 oder 1:20 gestiegen wäre. Auch die Zensur wird thematisiert, etwa die Abschussliste, auf der laut Hein 1988 die Wochenzeitung „Sonntag“ stand, deren Chefredakteur Kuckuck wird.
Mit „Das Narrenschiff“ legt Christoph Hein somit einen Roman vor, der weit mehr als eine literarische Erzählung sein will; es ist der Versuch, die Geschichte der DDR neu zu denken und das offiziell verordnete Bild durch persönliche Erinnerungen und alternative Deutungen zu ergänzen oder zu korrigieren.