Brüchau. Zwischen sanften Feldern und knorrigen Apfelbäumen schlummert im Norden Sachsen-Anhalts eine tickende Umweltbombe: der „Silbersee“. Einst eine unscheinbare Tongrube, wurde das flache Gewässer ab 1972 zum Ziel zehntausender Lastwagen, die dort Bohrschlamm und Chemikalien entsorgten. Heute fürchten die 110 Einwohner des Dörfchens Brüchau um ihre Gesundheit und die Zukunft ihrer Heimat.
Von der Tongrube zur Giftgrube
Als die Arbeiter der nahegelegenen Erdgasfelder in den siebziger Jahren ihren Schlamm loswerden wollten, bot sich die lehmige Grube am Ortsrand von Brüchau an. Über vier Jahrzehnte kippten Tanklaster hier Abfälle ab – bis 2012. Unter den Millionen Litern Abfallflüssigkeit verbergen sich schätzungsweise 250 Tonnen Quecksilber, 9 000 Tonnen Säuren und 1,5 Tonnen Arsenstoffe, hinzu kommen Pflanzenschutzmittel und Pharmareste. Eine natürliche Tonschicht im Untergrund sollte das Gift eigentlich zurückhalten. Doch schon eine Messung von 1992 wies hochgiftige Salze im angrenzenden Grundwasser nach.
„An warmen Tagen lag oft ein silbriger Nebel über der Grube, und der Gestank trieb uns die Tränen in die Augen“, erinnert sich Jürgen Bammel, dessen Haus unweit der Zufahrtsstraße liegt. „Wir wussten nie, ob uns der nächste Windstoß krank macht.“
Kindheit in Gefahr
Kinder spielten unbedarft am Grubenrand: silbrig glänzende Kügelchen – Überreste von Quecksilber – rollten vom Lkw auf die schmale Dorfstraße. Spiele mit der tödlichen Perle wurden offenbar zur Rennbahn. Erste Alarmzeichen zeigten sich Ende der 1980er Jahre: Eltern meldeten vermehrt Ekzeme und Haarausfall. Mediziner zogen die Giftmüllgrube als mögliche Ursache in Betracht, doch die Schließung des Silbersees ließ auf sich warten.
„Wir haben Briefe geschrieben, Petitionen eingereicht und laut protestiert – in der DDR wie nach der Wende“, sagt eine Anwohnerin. „Und doch fuhren die Laster weiter.“
Verwaltungsdesaster und politische Blockade
Obwohl das Landesbergamt 1992 die Gefahr erkannte, erteilte es dem Betreiber die Erlaubnis, weiter Ablagerungen vorzunehmen. Die Begründung: Die Tonschicht sei ausreichend. Eine Studie privater Brunnenbetreiber belegt jedoch erhöhte Schadstoffwerte im Trinkwasser. Die hessische EU-Umweltverordnung schließlich stoppte 2012 die Einträge – die Altlast blieb.
Der Landtag von Sachsen-Anhalt hat nun eine genaue Untersuchung angekündigt. Unklar bleibt jedoch, ob die Untersuchungen ausreichen, um die geologische Barriere und mögliche Grundwasserströmungen zu durchleuchten. Bis Ende 2019 sollten zusätzliche Gutachten vorliegen – doch ein Abschlussbericht fehlt bis heute.
Zwei Wege aus der Katastrophe
Diskutiert werden zwei Sanierungsvarianten:
- Auskofferung: Abdecken der Grube, Abpumpen des giftigen Wassers, Herausbaggern des verseuchten Schlamms und Verbringen auf eine Spezialdeponie.
- In-situ-Abdichtung: Entwässerung des Schlammkörpers und Abschirmen mit Erde, Ton und Folie vor Ort.
Während die Bürgerinitiative die Auskofferung fordert – um das Gift vollständig zu entfernen –, favorisieren Behörden die günstigere Abdichtungsmethode. Die Anwohner warnen jedoch: „Wenn unter der Grube Risse sind, sickert das Gift weiter ins Grundwasser.“
Ein Dorf im Kampf um seine Zukunft
Die politischen und finanziellen Hürden sind hoch: Kosten von mehreren Millionen Euro, unklare Haftungsfragen und jahrelange Planungsverfahren. Doch die Menschen in Brüchau bleiben hartnäckig: Ein von der Initiative organisierter Fragebogen ergab eine doppelt so hohe Krebsrate wie im Landesdurchschnitt. Diese alarmierende Zahl befeuert den Ruf nach einem schnellen, effektiven Vorgehen.
„Wir wollen nicht weglaufen müssen“, sagt eine Anwohnerin. „Unsere Kinder sollen hier in Sicherheit aufwachsen.“
Blick nach vorn
Ein unabhängiges Gutachten könnte jetzt den Weg ebnen – hierfür stehen mehrere Ingenieur-Büros bereit. Fördermittel aus EU-Strukturprogrammen und Landeshaushalt sind beantragt. Das nächste Ziel der Bürgerinitiative: ein Runder Tisch mit Landesregierung, Gutachtern und Umweltverbänden noch vor der Sommerpause 2025.
Brüchau steht exemplarisch für viele Orte in Ostdeutschland, die unter den Altlasten der Industrie leiden. Die Geschichte des Silbersees mahnt: Umweltverantwortung endet nicht mit der Schließung einer Grube, sondern beginnt erst richtig mit ihrer Sanierung. Und für die Menschen in der Altmark entscheidet sich jetzt, ob der Silbersee zur dritten Falle für Generationen wird – oder endlich Geschichte.