35 Jahre nach dem bahnbrechenden Volkskammer-Beschluss: Deutschlands neue Selbstverpflichtung zur historischen Verantwortung
Vor 35 Jahren, am 12. April 1990, ergriff die einzige frei gewählte Volkskammer der DDR ein historisches Statement, das bis heute nachhallt. In einer Zeit, in der sich ein tiefgreifender Wandel anbahnte, überwand das Parlament die langjährige, von staatlich verordneter Geschichtsdeutung geprägte Erinnerungspolitik. Mit der Verkündung der Erklärung zur „Verantwortung der Deutschen in der DDR für ihre Geschichte und ihre Zukunft“ wurde nicht nur das Schweigen über die Verbrechen des Nationalsozialismus durchbrochen – es wurde ein Bekenntnis abgelegt, das den Weg für eine umfassendere, ehrlichere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ebnete.
Ein Bruch mit der Vergangenheit
Die Erklärung der Volkskammer stellte einen bewussten Bruch mit der SED-Doktrin dar. Bis dahin wurde die Geschichte der NS-Zeit aus einer einseitigen Perspektive betrachtet: Der antifaschistische Gründungsmythos der DDR stellte kommunistische Kämpfer und Widerstandskämpfer ins Zentrum des Gedenkens. Ein umfassendes Bekenntnis zu den Gräueltaten des Nationalsozialismus – insbesondere an Jüdinnen und Juden, den Völkern der Sowjetunion, dem polnischen Volk und den Sinti und Roma – blieb bislang weitgehend aus. Die Volkskammer-Entscheidung von 1990 hingegen setzte ein klares Zeichen: „Diese Schuld darf niemals vergessen werden. Aus ihr wollen wir unsere Verantwortung für die Zukunft ableiten.“
Verantwortung als Leitmotiv für die Zukunft
Die damalige Entscheidung war mehr als ein politischer Akt im Übergang zur Demokratie – sie war ein Appell an die Verantwortung jeder Einzelnen und jedes einzelnen Deutschen. Indem sich das Parlament zur Unterstützung jüdischer Kultur und zum Schutz jüdischer Einrichtungen bekannte, legte es eine Grundlage für einen fortwährenden Dialog und eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Diese Mitverantwortung und das damit verbundene Bekenntnis wirken auch heute nach, besonders in einer Zeit, in der populistische Tendenzen und Geschichtsrevisionismus immer wieder die Erinnerungskultur infrage stellen.
Der filmische Beitrag zur Erinnerungskultur
Anlässlich des 35. Jahrestages dieser richtungsweisenden Erklärung veröffentlicht die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur den Dokumentarfilm „Schuld – Bekenntnis – Verantwortung“. Der Film dokumentiert das Entstehen und die Wirkung des Volkskammerbeschlusses und beleuchtet seine Bedeutung für das heutige Geschichtsbewusstsein. Er zeigt, wie ein politischer Akt in bewegten Zeiten als Wendepunkt für eine offene und ehrliche Erinnerungskultur fungieren kann – ein wichtiges Beispiel dafür, dass Aufarbeitung und kritischer Diskurs nicht nur historische Notwendigkeiten sind, sondern auch die Basis für eine demokratische Zukunft bilden.
Ein historisches Erbe im Wandel der Zeiten
Die Erinnerung an diese wegweisende Stellungnahme mahnt an die Unverrückbarkeit der Verpflichtung, sich der eigenen Geschichte zu stellen. Auch wenn sich das politische System geändert hat und die Herausforderungen der Gegenwart neue Fragen aufwerfen, bleibt das Grundprinzip bestehen: Die Anerkennung der Schuld vergangener Verbrechen und das daraus abgeleitete Streben nach einer gerechten, solidarischen Zukunft. Gerade in Zeiten, in denen nationalistische und revisionistische Tendenzen wieder an Einfluss gewinnen, ist der Blick zurück ein entscheidender Baustein für das Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft.
Der Volkskammerbeschluss von 1990 ist also weit mehr als ein historisches Dokument – er ist eine Mahnung und ein Aufruf zur dauerhaften Wachsamkeit gegenüber der eigenen Vergangenheit und eine Verpflichtung gegenüber den Lehren, die daraus für die Gestaltung der Zukunft gezogen werden können.