Wie zwei Leben die Geschichte Ostdeutschlands widerspiegeln
Es ist eine der eindrucksvollsten Langzeitdokumentationen der Filmgeschichte: „Die Kinder von Golzow“. Über Jahrzehnte hinweg begleitet das Projekt die Schicksale jener Kinder, die 1961 im brandenburgischen Dorf Golzow eingeschult wurden – im ersten Schuljahr der DDR nach dem Mauerbau. Zwei dieser Kinder, Bernhard Gudajan und Eckhard Hoppe, stehen im vierten Teil der Reihe mit dem Titel „Und wenn sie nicht gestorben sind…“ im Mittelpunkt. Die filmischen Exzerpte aus dem Jahr 2008 erzählen mehr als nur Biografien – sie erzählen von Aufbrüchen, Brüchen und von der Kraft, sich in einer Welt voller Umwälzungen zu behaupten.
Kindheit und Jugend in der DDR: Maschinen, Mauern und Musterbiografien
Schon früh zeichnen sich bei Bernhard und Eckhard unterschiedliche Lebenswege ab. Der eine, Bernhard, schmächtig, schüchtern, ein stiller Beobachter. Der andere, Eckhard, körperlich präsent, lieber draußen als in der Schulbank. In einer Gesellschaft, in der der Lebensweg oft vorgezeichnet scheint, finden beide zunächst ihren Platz: Eckhard wird Maschinenschlosser in der örtlichen LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft). Bernhard durchläuft eine Ausbildung im Metallbereich, dient später bei den Grenztruppen und engagiert sich in der Kampfgruppe der Arbeiterklasse.
Es sind typische DDR-Biografien – eingebettet in die kollektiven Strukturen des Staates. Doch auch innerhalb dieser Normierung zeigen sich individuelle Nuancen. Eckhard ist bodenständig, pragmatisch, er liebt Maschinen und seine Arbeit. Bernhard wirkt suchender, vielseitiger, vielleicht auch sensibler für Widersprüche.
Familienleben zwischen Bindung und Bruch
Privat entwickeln sich die Lebenswege weiter auseinander. Eckhard heiratet früh, gründet eine Familie mit vier Kindern. Ein Leben im Rhythmus der dörflichen Gemeinschaft, getragen von Verlässlichkeit. Bernhard hingegen erlebt Beziehungskrisen. Die Partnerschaft mit Ines, einer Berliner Studentin, scheitert – an unterschiedlichen Lebensentwürfen, an der Distanz, vielleicht auch an den politischen Spannungen der Zeit. Später findet er in Edeltraud eine neue Partnerin, Stabilität kehrt ein.
Die Wende: Als das Fundament zu wanken beginnt
Dann kommt das Jahr 1989. Der Fall der Mauer verändert alles. Was über Jahrzehnte Halt und Struktur bot – das System der Planwirtschaft, der „Kollektivgedanke“ – wird in Frage gestellt, aufgelöst, abgebaut. In Golzow trifft es vor allem die Landwirtschaft. Die LPG, in der Eckhard arbeitet, muss sich auf dem freien Markt behaupten. Konkurrenz, Preisdruck, Bürokratie: Die neue Realität ist unerbittlich.
Eckhard, der in seinem Beruf aufgeht, gerät in die Mühlen des Umbruchs. Arbeitslosigkeit wird zur realen Bedrohung. Die einstige Gewissheit weicht existenzieller Unsicherheit. Für Bernhard hingegen eröffnen sich neue Wege. Er engagiert sich kommunalpolitisch, arbeitet zeitweise als Landmaschinenstraßer und wird Teil eines Kooperationsprojekts mit einer ukrainischen Agrofirma. Eine späte Form von Internationalismus – diesmal nicht ideologisch, sondern wirtschaftlich motiviert.
Zwischen Rückblick und Neubeginn
Die Dokumentation endet im Jahr 2001 – mit zwei Männern, deren Leben untrennbar mit der Geschichte ihres Dorfes und der DDR verknüpft sind. Was bleibt, ist kein einfaches Fazit. Eckhard steht für jene, die trotz aller Anpassungsfähigkeit vom Strukturwandel überrollt werden. Bernhard symbolisiert die, die sich neu erfinden, ohne ihre Herkunft zu verleugnen.
Beide Geschichten erzählen von der Stärke und Verletzlichkeit jener Generation, die als Kinder des Sozialismus aufwuchsen und sich später im Kapitalismus neu orientieren mussten. Sie sind kein Einzelfall – sondern Teil eines kollektiven Erlebens, das in den 1990er Jahren das Leben von Millionen Ostdeutschen geprägt hat.
Golzow als Mikrokosmos des Ostens
Golzow wird zum Sinnbild des ostdeutschen Wandels. Hier, in einem Dorf an der Oder, wird die große Geschichte greifbar. Zwischen Kuhställen, LPG-Traktoren und stillgelegten Werkstätten offenbaren sich Fragen von Identität, Zugehörigkeit und Zukunft. Was bleibt von einem Leben, wenn sich das System, das es getragen hat, auflöst?
Die „Kinder von Golzow“ geben darauf keine einfachen Antworten. Aber sie zeigen: Geschichte ist nicht nur das, was in Büchern steht. Geschichte ist das, was Menschen erleben – Tag für Tag, Jahr für Jahr. Und manchmal, wie in Golzow, schaut ihr dabei eine Kamera zu.