Rainer Prachtl: Ein Zeitzeuge der Friedlichen Revolution 1989

Die Friedliche Revolution von 1989 war ein Wendepunkt in der deutschen Geschichte – für viele ein Moment der Hoffnung, für andere ein Moment der Angst. Für Rainer Prachtl bedeutete sie beides zugleich. Sein Leben war bis zu diesem Zeitpunkt geprägt von seinem Engagement in der katholischen Kirche, wo er einen Kreis für Frieden und Gerechtigkeit ins Leben rief. Doch in der DDR bedeutete oppositionelles Handeln immer auch ein Risiko. Er erinnert sich an die ständige Überwachung, an Repressalien – sogar an die Zerstörung seines Trabants, die er als Drohung verstand.

Dennoch wuchs der Widerstand. Anfangs waren es nur wenige, die sich in den Kirchen trafen. Beim ersten Gottesdienst saßen 300 Menschen in den Bänken, unsicher, ob sie den Schritt auf die Straße wagen sollten. Doch mit jedem weiteren Treffen wurde der Mut größer. Bald schlossen sich Menschen von der evangelischen Johanniskirche an, und schließlich bewegte sich eine schweigende, aber entschlossene Menge durch die dunklen Straßen von Neubrandenburg.

Einer der eindrucksvollsten Momente für Prachtl war der Abend, an dem er eine Chrysantheme als Symbol des friedlichen Protests einem Polizisten überreichen sollte. Dieser reagierte nicht mit Worten, sondern mit einer Geste der Ablehnung: Er warf die Blume zu Boden und zertrat sie mit seinem Stiefel. Die Blütenblätter lagen verstreut auf dem Asphalt – ein Symbol für den Versuch des Regimes, die Bewegung niederzudrücken. Doch die Revolution war nicht mehr aufzuhalten.

Der entscheidende Tag kam, als Zehntausende durch Neubrandenburg zogen. Die Demonstranten riefen „Wir sind das Volk!“, während die Staatssicherheit von der Post gegenüber der Johanniskirche aus filmte. Die Atmosphäre war angespannt. Besonders bedrohlich erschien Prachtl die große Menschenansammlung auf dem Karl-Marx-Platz. Dort standen nach seiner Schätzung 3.000 bis 4.000 Anhänger des alten Regimes – viele vermutlich aus den Reihen der Staatssicherheit. Es war ein Moment der Ungewissheit: Würde die Revolution friedlich bleiben, oder drohte Gewalt?

Während die Demonstranten durch die Stadt zogen, dachte Prachtl an seine Familie. Er hatte seinen Sohn gewarnt: Falls er und seine Frau an diesem Abend nicht nach Hause kämen, solle er zu den Großeltern gehen. Es war unklar, wie die Staatsmacht reagieren würde – friedliche Proteste konnten jederzeit brutal niedergeschlagen werden. Doch die Menschen hielten stand. Sie verlangten Veränderungen, eine Zukunft ohne Unterdrückung.

Prachtl selbst glaubte zunächst nicht an eine Wiedervereinigung. Viel eher erwartete er eine reformierte DDR, eine Art sozialistischen Staat mit demokratischen Strukturen – so, wie es einige Philosophen vorgeschlagen hatten. Doch die Ereignisse überschlugen sich, und plötzlich war die Einheit Deutschlands in greifbare Nähe gerückt.

Mit dem Ende der DDR begann ein neuer Abschnitt. Die alten Machthaber verschwanden, und neue politische Strukturen mussten aufgebaut werden. Hier spielten Prachtl und andere engagierte Katholiken eine entscheidende Rolle. In einer Region, in der die evangelische Kirche traditionell eine stärkere Oppositionskraft gewesen war, übernahmen nun auffällig viele Katholiken führende Positionen. Prachtl selbst wurde der erste Landtagspräsident Mecklenburg-Vorpommerns. Paul Krüger, ein weiterer katholischer Aktivist, wurde später Bundesforschungsminister. Die Kirche, einst ein Zufluchtsort für Andersdenkende, wurde nun zum Ausgangspunkt politischer Verantwortung.

Prachtl beschreibt diesen Prozess mit einer eindrücklichen Metapher: Nach der Revolution standen Pferde bereit – und die Katholiken waren diejenigen, die sich darauf setzten und losritten. Andere hingegen zögerten, diskutierten, überlegten. Doch für Prachtl war klar: Demokratie musste aktiv gestaltet werden. Nicht jede Entscheidung war perfekt, nicht jeder Weg war der richtige, aber es ging darum, Verantwortung zu übernehmen.

Heute blickt er mit Stolz, aber auch mit Nachdenklichkeit auf diese Zeit zurück. Die Revolution war mehr als nur ein politischer Umbruch – sie war ein persönlicher, tiefgreifender Moment der Veränderung. Menschen, die jahrelang in Angst gelebt hatten, fanden den Mut, für ihre Freiheit einzustehen. Und auch wenn nicht alles ideal verlief, bleibt eines unbestreitbar: Die Friedliche Revolution hat Deutschland und das Leben vieler Menschen für immer verändert.

Autor/Redakteur: Arne Petrich
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