Neuer Kurs im Zentralkomitee: Mit Modrow und Schabowski in die Reformära 1989

Der ARD-Brennpunkt vom 08. November 1989 dokumentiert einen tiefgreifenden Umbruch im Zentralkomitee (ZK) der SED, der weit über formale Neubesetzungen hinausgeht und den Bruch mit jahrzehntelangen Machtstrukturen markiert. Im Zentrum der Berichterstattung steht dabei die These, dass das ZK – einst als „Götter“ im Volksmund bekannt – einen grundlegenden Wandel durchlaufen muss, um den Herausforderungen einer neuen Ära gerecht zu werden. Dabei wird insbesondere die Person Hans Modrow, Bezirkschef der SED in Dresden, als potenzieller Reformer und Hoffnungsträger hervorgehoben, der symbolisch als „neuer deutscher Gorbatschow“ inszeniert wird. Trotz aller Parallelen zu dem sowjetischen Reformator Gorbatschow wird betont, dass Modrow bislang noch nicht die äußerliche Ausstrahlung eines solchen Führungscharakters besitzt, sondern sich durch ein eher bescheidenes Auftreten auszeichnet.

Die Veränderungen im ZK sind nicht nur kosmetischer Natur, sondern zielen darauf ab, das politische Gremium, das bislang durch seine Altersstruktur und starre Machtkonzentration charakterisiert war, grundlegend zu modernisieren. Mit einem Durchschnittsalter von 67 Jahren übertraf das Politbüro die westdeutschen Regierungen deutlich und war damit ein Symbol für ein überholtes System. Historisch galt der Tod eines Mitglieds als einziger zwingender Grund für das Ausscheiden aus diesem Gremium – ein Zustand, der nun als nicht mehr zeitgemäß angesehen wird. In diesem Kontext fallen auch die bereits vor wenigen Monaten erfolgten Entlassungen von Figuren wie Bernhard Vellfell, die als symbolische Abschiede aus der Ära des Alten dienten.

Der Wandel wird vor allem an der personellen Neubesetzung deutlich. So mussten traditionell mächtige und oftmals als unfähig beurteilte Figuren wie Erich Honecker, Günter Mittag und Joachim Herrmann aus dem Politbüro entfernt werden. Auch andere bekannte Namen, darunter Harry Tisch, Kurt Hager, Hermann Axen, Erich Mielke und weitere langjährige „Altstadionisten“ – etwa Alfred Neumann und Günter Mückenberger – wurden aus dem Kreis der bisher 21 stimmberechtigten Mitglieder entfernt. Diese personellen Veränderungen sind nicht zuletzt Ausdruck des wachsenden Drucks aus den eigenen Reihen und den Grundorganisationen der Partei, die ein Ende der elitären Machtkonzentration fordern.

Im Zentrum der Neubesetzungen steht Günter Schabowski, der als der neue Hoffnungsträger in der Wendezeit gilt. Schabowski wird in der Berichterstattung als wendiger und kontaktfreudiger Politiker porträtiert, der den Anspruch verkörpert, den neuen Dialog zu fördern – auch gegenüber jenen, die dem SED-Regime kritisch gegenüberstehen. Seine Rolle wird als entscheidend für den Übergang in eine neue politische Ära betont, in der nicht mehr „alte Hände“ miteinander im Verborgenen agieren, sondern eine breitere, auch dialogorientierte Politik Platz erhält.

Als weitere entscheidende Neuerung wird Hans Modrow genannt, der nun als Kandidat für den Vorsitz des Ministerrats vorgeschlagen wurde. Zusammen mit Egon Krenz und Schabowski soll er das neue „Machtdreieck“ bilden, das die politischen Weichen der DDR in eine reformorientierte Zukunft lenken soll. Dabei steht Modrow, der bis dato als reformfreudiger, wenn auch zurückhaltender Politiker galt, vor der Herausforderung, in einer Zeit des Umbruchs nicht nur neue politische Akzente zu setzen, sondern auch das Vertrauen einer zerrütteten Öffentlichkeit zu gewinnen.

Neben diesen zentralen Figuren wird in dem Bericht auch auf weitere Neubesetzungen hingewiesen, die den Wandel im innerparteilichen Machtapparat widerspiegeln. So wird Wolfgang Hager als neues Gesicht für die Öffentlichkeit präsentiert, der bisher im Schatten der bekannten Namen Mielke und Krenz agierte und nun mit der Verantwortung für die Staatssicherheitsdienste betraut wird – eine Position, die bislang keineswegs mit reformorientierten Impulsen in Verbindung gebracht wurde. Auch Gerhard Schürer, Wolfgang Raufuß und Werner Jarowinski, die bereits an den Schaltstellen der Macht tätig waren, werden in das neue Kader integriert. Zudem sind Bezirkschefs wie Sigrid Lorenz, Werner Eberlein und Hans-Joachim Böhmer vertreten, was die starke Präsenz der regionalen Parteifunktionäre im neuen Politbüro unterstreicht.

Bemerkenswert ist zudem, dass trotz aller Veränderungen auch Elemente der alten Garde weiterhin erhalten bleiben. So ist beispielsweise Verteidigungsminister Heinz Kessler, ein langjähriger Vertrauter Honeckers, im Politbüro verblieben. Diese Kontinuität verdeutlicht, dass der Umbruch zwar grundlegende Veränderungen mit sich bringt, jedoch die Machtstrukturen nicht von heute auf morgen vollständig erneuert werden können. Es wird deutlich, dass sich das ZK in einer Übergangsphase befindet, in der alte und neue Elemente nebeneinander existieren – ein Spiegelbild der gesamtgesellschaftlichen und politischen Wende in der DDR.

Der Bericht des Brennpunktes zeichnet somit ein komplexes Bild eines Systems, das zwischen dem Erbe eines repressiven, überalterten Apparats und den ersten Versuchen einer Öffnung und Modernisierung steht. Es wird klar, dass der Reformprozess nicht allein durch kosmetische Personalwechsel vorangetrieben werden kann, sondern einen tiefgreifenden kulturellen und strukturellen Wandel erfordert. Die neuen Akteure stehen vor der Herausforderung, das Vertrauen der Bevölkerung wiederzugewinnen und die verkrusteten Machtmechanismen zu durchbrechen – eine Aufgabe, die angesichts der historischen Last und der internen Widerstände alles andere als leicht ist.

Insgesamt vermittelt der Beitrag des ARD-Brennpunktes ein eindringliches Bild der politischen Transformation in der DDR: Es wird der Bruch mit der Vergangenheit deutlich, während gleichzeitig die unübersehbare Kontinuität alter Machtverhältnisse und Gewohnheiten spürbar bleibt. Die Darstellung zeigt, dass die politische Wende mehr ist als nur eine Reihe von Personalwechseln – sie ist ein Aufbruch in eine neue Ära, in der Dialog, Offenheit und Reformbereitschaft den Weg weisen sollen. Doch die gewaltigen Herausforderungen und Widersprüche innerhalb der Parteistrukturen lassen auch Zweifel an der Geschwindigkeit und Nachhaltigkeit dieses Umbruchs aufkommen. Die Zeit wird zeigen, ob und wie es den neuen Akteuren gelingen kann, die DDR zu reformieren und den Übergang in eine zukunftsfähige Gesellschaft zu meistern.

Autor/Redakteur: Arne Petrich
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