Gera-Lusan: Zwischen Wandel und Zusammenhalt im Plattenbau

Der Dokumentarfilm „Unsere Hausgemeinschaft – Leben in der Platte“ gewährt einen tiefgründigen Einblick in das Leben im Plattenbaugebiet Gera-Lusan im vereinten Deutschland und zeichnet dabei ein vielschichtiges Bild einer Nachbarschaft, die weit mehr ist als nur grauer Beton. Der Film lässt den Zuschauer an Alltagsgeschichten teilhaben, die den Bewohnern dieses Stadtteils ein Gesicht geben und gleichzeitig die sozialen, wirtschaftlichen und baulichen Herausforderungen beleuchten, mit denen sie konfrontiert sind.

Zwischen Tradition und Modernisierung
In Gera-Lusan, einem ehemals stigmatisierten Plattenbaugebiet, haben sich viele Bewohner mit ihrem Viertel verwurzelt. Der Film zeigt, dass die Platte keineswegs ausschließlich ein Zufluchtsort für Randgruppen ist, sondern dass hier ein vielfältiger und lebendiger Alltag stattfindet. Zahlreiche Bewohner pflegen eine tiefe emotionale Bindung zu ihrem Zuhause – sie arbeiten aktiv am Umbau und der Imageaufwertung des Stadtteils mit. Dieser Einsatz verdeutlicht, dass die Bewohner stolz auf ihre Herkunft sind und fest daran glauben, dass das Leben in der Platte auch in Zukunft lebenswert bleibt.

Wohnsituation zwischen Altbewährtem und Neubeginn
Die Wohnsituation in Gera-Lusan ist von einem steten Wandel geprägt. Nach der Wende verließen viele Menschen den Plattenbau, wodurch zahlreiche Wohnblocks leer standen. Diese veränderte Demografie führte dazu, dass manche Gebäude abgerissen werden mussten. Um die verbliebenen Mieter zu halten und den Stadtteil attraktiver zu machen, sind umfassende Umbau- und Modernisierungsmaßnahmen im Gange. Moderne Raumaufteilungen, Dachterrassen und andere bauliche Neuerungen stehen im Kontrast zur oft als dumpf empfundenen Außenwirkung der Plattenbauten. Dennoch schätzen die Bewohner vor allem die günstigen Mietpreise, die es ihnen ermöglichen, in einer zentralen Lage zu wohnen – auch wenn die Wohnungen häufig unter einer ausgeprägten Hellhörigkeit leiden, wodurch jedes Geräusch der Nachbarn unüberhörbar wird.

Porträts der Bewohner – Geschichten aus dem Alltag
Der Film folgt einer Reihe von Charakteren, die stellvertretend für die Vielfalt der Hausgemeinschaft stehen:

Carsten Müller, ein seit 16 Jahren bei den Gera Verkehrsbetrieben tätiger Straßenbahnfahrer, ist ein Paradebeispiel für die Verbundenheit mit dem Stadtteil. Mit seiner langjährigen Erfahrung auf den Linien durch Lusan kennt er jede Ecke und jeden Winkel des Viertels. Seine Freude an der Arbeit und der tägliche Kontakt zu den Fahrgästen spiegeln die positive Einstellung wider, die vielen Bewohnern eigen ist.

Bernd Heimer, der Hausmeister des Komplexes, übernimmt weit mehr als nur die Instandhaltung der Gebäude. Als Ansprechpartner für die Mieter sorgt er für Ordnung und Sicherheit und ist ein unverzichtbarer Teil der Gemeinschaft. Sein unermüdlicher Einsatz macht ihn zu einer stabilisierenden Kraft in einem manchmal chaotischen Umfeld.

Angelika Weber betreibt einen kleinen Laden, in dem sie gebrauchte Gegenstände ankauft und verkauft. Ihre Kundschaft, die oftmals finanziell eingeschränkt ist, findet hier nicht nur preiswerte Waren, sondern auch ein Stück gelebter Solidarität. Angelikas Laden fungiert als soziale Anlaufstelle in einem Viertel, das sich durch gegenseitige Unterstützung auszeichnet.

Alex Schulz, ein 81-jähriger ehemaliger Lehrer, hat sich der Einhaltung der Hausordnung verschrieben. Dabei geht es ihm weniger um strenge Reglementierung als vielmehr um den Erhalt einer funktionierenden Gemeinschaft. Mit seiner langjährigen Erfahrung versucht er, den Zusammenhalt unter den Bewohnern zu fördern – ein Versuch, der in Zeiten zunehmender Anonymität eine besondere Bedeutung gewinnt.

Das Ehepaar Willmann lebt seit vielen Jahren in einer Eigentumswohnung im vierten Stock, obwohl der fehlende Aufzug insbesondere für die Frau mit gesundheitlichen Problemen zu einer täglichen Herausforderung geworden ist. Ihre Lebensgeschichte spiegelt die Problematik des Alters in einem Umfeld wider, das nicht immer auf die Bedürfnisse älterer Menschen zugeschnitten ist.

Anja Bruder, eine Verkäuferin, lebt auf knapp 23 Quadratmetern in einer sanierten Wohnung. Trotz der modernen Renovierung schwingt bei ihr eine gewisse Wehmut mit, denn sie vermisst das pulsierende Leben, das einst junge Menschen in Gera kennzeichnete. Der kleine, aber feine Balkon, den sie ihr persönliches Refugium nennt, ist für sie ein Symbol der begrenzten, aber kostbaren Freiräume in einem oftmals beengten Wohnumfeld.

Sven Bischof ist ein provokanter Charakter: Als Skinhead fällt er durch sein auffälliges Erscheinungsbild und sein markantes Fahrrad sofort auf. Zusammen mit seinen Freunden trifft er sich regelmäßig in einem nahegelegenen Park, wo Bier und laute Diskussionen zur Tagesordnung gehören. Seine Präsenz verdeutlicht, dass auch in einem von Modernisierung und Umbau geprägten Viertel traditionelle, wenn auch kontroverse, Lebensweisen ihren Platz finden.

Ramona und Daniel, ein junges Paar, kämpfen täglich mit den Herausforderungen der Arbeitslosigkeit. Lebendig am Rande der Existenz, haben sie ihren Fernseher verkauft, um über die Runden zu kommen. Ihre Lebenssituation steht exemplarisch für die finanzielle Notlage, in der viele Bewohner des Viertels stecken – ein Schicksal, das durch die wenigen Perspektiven für junge Menschen noch verschärft wird.

Herausforderungen und Chancen im Wandel
Die dargestellten Schicksale werfen ein Schlaglicht auf die grundlegenden Herausforderungen, denen sich Gera-Lusan gegenübersieht. Die hohe Arbeitslosigkeit, die begrenzten beruflichen Perspektiven und die prekäre finanzielle Lage vieler Hartz-IV-Empfänger prägen das Bild eines Viertels, das trotz aller Bemühungen um Modernisierung von sozialen Spannungen und Zukunftsängsten durchzogen ist. Besonders die jüngere Generation sieht sich mit der schwierigen Frage konfrontiert, ob es sich lohnt, in einem Umfeld zu bleiben, das von wirtschaftlicher Unsicherheit und einem schwindenden Gemeinschaftsgefühl geprägt ist.

Gleichzeitig aber zeigt der Film auch den unerschütterlichen Optimismus einiger Akteure. Frau Schneider von der Wohnungsbaugesellschaft ist eine überzeugte Verfechterin des Plattenbaus und glaubt fest an dessen Zukunft. Ihr Engagement symbolisiert den Willen, den Rückbau von Wohnblöcken zu stoppen und stattdessen durch gezielte Sanierungsmaßnahmen und Modernisierungen den Stadtteil neu zu beleben. Neue Raumaufteilungen, zusätzliche Dachterrassen und ein moderneres Design sollen den Bewohnern nicht nur ein komfortableres Leben ermöglichen, sondern auch dazu beitragen, das Image des Viertels aufzuwerten.

Gemeinschaft im Wandel – Erinnerungen und neue Versuche
Ein zentrales Motiv des Films ist der Wandel in der Hausgemeinschaft. Früher waren Feste und gemeinschaftliche Aktivitäten ein fester Bestandteil des Lebens in den Plattenbauten. Das Miteinander war von einem starken sozialen Zusammenhalt geprägt, der den Bewohnern Halt und ein Gefühl von Zugehörigkeit verlieh. Heute ist das Zusammenleben jedoch oft anonymer geworden. Der Verlust alter Traditionen und der zunehmende Individualismus stellen die Gemeinschaft vor neue Herausforderungen. Hier übernimmt Alex Schulz eine symbolträchtige Rolle: Mit dem festen Willen, den einstigen Zusammenhalt wiederzubeleben, bemüht er sich um ein aktives Miteinander in den Hochhäusern. Sein Einsatz verdeutlicht, dass trotz der modernen Umbrüche der Wunsch nach sozialer Verbundenheit ungebrochen ist.

Parallel dazu schwingt in den Erzählungen auch immer wieder eine nostalgische Erinnerung an die DDR-Zeit mit. Viele Bewohner hegen positive Erinnerungen an vergangene Zeiten. Herr Willmann, der stolz auf seine Zeit bei der NVA ist, sieht in den Erfahrungen der DDR eine Phase, in der Solidarität und Zusammenhalt einen hohen Stellenwert hatten. Diese Erinnerungen stehen im Kontrast zu den aktuellen Herausforderungen und verleihen dem Film eine zusätzliche emotionale Dimension.

Mehr als nur grauer Beton
„Unsere Hausgemeinschaft – Leben in der Platte“ zeichnet ein facettenreiches Porträt eines Stadtteils im Umbruch. Der Film macht deutlich, dass die Platte weit mehr ist als eine Ansammlung von grauen Betonwänden. Sie ist ein lebendiger Organismus, in dem sich Geschichten von Hoffnung, Resignation, Solidarität und dem unermüdlichen Streben nach einem besseren Leben abspielen. Trotz der offensichtlichen Herausforderungen – von der finanziellen Notlage über den Mangel an Perspektiven für junge Menschen bis hin zu baulichen Problemen – zeigt sich, dass der Geist der Gemeinschaft ungebrochen ist. Die Bewohner von Gera-Lusan tragen mit ihrem Engagement, ihren Erinnerungen und ihrem Optimismus dazu bei, den Stadtteil immer wieder neu zu definieren.

In einer Zeit, in der urbane Räume weltweit vor ähnlichen Herausforderungen stehen, liefert der Film wichtige Impulse für die Diskussion um Stadtentwicklung und soziale Integration. Er fordert den Betrachter auf, über vorgefertigte Bilder von Plattenbauten hinauszublicken und die Geschichten der Menschen zu erkennen, die tagtäglich mit den Vor- und Nachteilen ihres Wohnumfelds leben. Die Lebensrealität in Gera-Lusan ist somit nicht nur ein Spiegel der Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch ein Blick in die Zukunft – eine Zukunft, in der der Zusammenhalt und die Fähigkeit, sich den Herausforderungen zu stellen, über den Fortbestand eines Viertels entscheiden werden.

Mit seiner ungeschönten, aber zugleich hoffnungsvollen Darstellung gelingt es „Unsere Hausgemeinschaft – Leben in der Platte“, den Zuschauer emotional zu berühren und zugleich sachlich über die komplexen sozialen und baulichen Dynamiken in einem der markantesten Stadtteile des vereinten Deutschlands zu informieren. Die Porträts der unterschiedlichen Bewohner eröffnen einen lebendigen Dialog zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – ein Dialog, der zeigt, dass in jedem Betongroßbau das Potenzial für eine lebendige Gemeinschaft steckt.

Autor/Redakteur: Arne Petrich
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