Arbeiten für den Staat: Die Jugendwerkgruppen als Orte der Zwangsarbeit

Zwangsarbeit in der DDR - Alexander Müller

Alexander Müller wurde 1969 in der DDR geboren und verbrachte einen Großteil seiner Jugend in verschiedenen Heimen, die Teil des Jugendhilfesystems der DDR waren. Die prägenden Erfahrungen, die er dort machte, waren von Misshandlungen, Gewalt und Zwangsarbeit begleitet. Doch der Weg, der ihn in diese Heime führte, war bereits von Anfang an von einer schwierigen Familiengeschichte geprägt. Seine Mutter, eine Künstlerin und Kunsthandwerkerin, hatte sich durch ihre unkonventionelle Lebensweise und ihre Weigerung, sich dem gesellschaftlichen Druck zu beugen, immer wieder in Konflikt mit den staatlichen Behörden gebracht. Mehrmals wurde sie inhaftiert, was auch das Leben ihres Sohnes stark beeinflusste. Alexander wuchs ohne eine konstante Mutterfigur auf, da sie immer wieder aus dem Leben seines Kindes gerissen wurde, was ihm seine Kindheit erschwerte.

Bereits im Kindergarten und in der Schule erlebte Alexander eine Art von Isolation, die durch die wiederholten Inhaftierungen seiner Mutter noch verstärkt wurde. Nicht nur Mitschüler, sondern auch Pädagogen gingen mit ihm sehr hart um. Aufgrund der Inhaftierungen seiner Mutter wurde er gemobbt und ausgegrenzt. Die ablehnende Haltung der Erwachsenen gegenüber ihm hinterließ tiefe Spuren. Die Unfähigkeit der Institutionen, auf seine Situation einzugehen, führte dazu, dass er sich von der Welt um ihn herum zunehmend entfremdete. Der Druck, der auf ihm lastete, und die ständige Stigmatisierung durch die Gesellschaft führten dazu, dass er versuchte, diesen Umständen zu entfliehen, indem er die Schule schwänzte. Doch diese Flucht in den Widerstand gegen das System führte nur dazu, dass er schließlich in ein Heim eingewiesen wurde.

Die Heimunterbringung, die für Alexander eine der einschneidensten Erfahrungen seines Lebens darstellte, war in seinen Augen eine Form von Erpressung. Ihm wurde der Kontakt zu seiner Mutter in Aussicht gestellt, wenn er sich den strengen und oft willkürlichen Regeln des Heims fügte. Doch die Realität war eine andere. Als seine Mutter versuchte, ihn aus dem Heim zu holen, wurden ihre Bemühungen von den Behörden vereitelt. Er selbst erhielt nie eine klare Erklärung, warum seine Entlassung verweigert wurde. Die Situation verschlechterte sich weiter, als er von sexuellen Übergriffen im Heim „Sonnenland“ berichtete. Als er sich an die Jugendhilfe in Plauen wandte, verschlechterte sich seine Lage noch weiter. Statt dass man ihm half, wurde er zunehmend diskreditiert. Berichte wurden verfasst, die ihn als Dieb und Gewalttäter darstellten, was seine Situation weiter erschwerte und ihn im Heim isolierte.

Sein Versuch, sich politisch auszudrücken, führte zu seiner Ausschulung und Verlegung in eine Jugendwerkgruppe. In einem Aufsatz, in dem er die sowjetische Intervention in Afghanistan mit dem Falklandkrieg verglich, stellte er seine Haltung zum politischen System der DDR dar. Für die DDR-Behörden war dies ein klarer Anlass, ihn aus der Schule zu werfen und in eine Jugendwerkgruppe zu verlegen. Die Bedeutung dieser Entscheidung war für ihn gravierend: Sie bedeutete eine Verschärfung seiner Situation, da ihm nun nicht nur der Zugang zu Bildung verwehrt wurde, sondern er auch zu Zwangsarbeit verpflichtet wurde. Er musste für verschiedene DDR-Betriebe arbeiten, darunter die Fahrzeugindustrie, die Sachsenring-Werke und die Parkhauswerke in Karl-Marx-Stadt.

Die Jugendwerkgruppen, in denen Alexander untergebracht war, waren aus seiner Sicht Orte der Zwangsarbeit, an denen die Kinder und Jugendlichen nicht nur physisch misshandelt, sondern auch psychisch gebrochen wurden. Bildung war ein Fremdwort, und die einzige Aufgabe der Jugendlichen bestand darin, für den Staat zu arbeiten. In den Durchgangsheimen, in denen er untergebracht war, herrschten unmenschliche Bedingungen. Die Kinder und Jugendlichen wurden wie „Verwaltungsakte“ behandelt und lebten unter ständiger Kontrolle der Behörden. Der Mangel an Vertrauen gegenüber den Erwachsenen und die ständige Angst vor Bestrafung prägten seine gesamte Zeit in den Heimen. Für Alexander war diese Zeit ein permanenter Zustand der Isolation und Unterdrückung, der ihn in seiner Entwicklung und seinem Selbstwertgefühl schwer beeinträchtigte.

Mit 14 Jahren wurde ihm das Erziehungsrecht seiner Mutter entzogen, was ihn völlig dem System der DDR auslieferte. Er erlebte, wie sich die Gewalt und der Druck im Jugendwerkhof Burg, einem weiteren Heim, in dem er untergebracht war, weiter verschärften. Im Jugendwerkhof herrschte eine harte Hackordnung, die durch Gewalt und Misshandlungen durch die Erzieher aufrechterhalten wurde. Die Arbeit war extrem hart, und die Jugendlichen mussten in gefährlichen Arbeitsumfeldern tätig sein. Alexander beschrieb die Maschinen, mit denen er arbeiten musste, als veraltet und gefährlich, ohne jeglichen Arbeitsschutz. Außerdem wurden ihm Löhne für verschlissene Arbeitsmittel abgezogen, was die ohnehin schon prekären Arbeitsbedingungen weiter verschärfte.

Die Zwangsarbeit, die Alexander im Jugendwerkhof leisten musste, fand in verschiedenen DDR-Betrieben statt. Er arbeitete unter anderem für das Stahl- und Walzwerk Burg, die Salzgitter AG, die Kneckewerke, die Schuhwerke und sogar für IKEA. Er berichtete von der Produktion von Verschlussbändern für Stahlbleche, Transportkisten, Kneckebrot und Schuhen für westliche Firmen wie Salamander. In Torgau arbeitete er unter anderem für die Weißgeräteindustrie in Billitz-Ernberg, die Werftenindustrie und die Firma Fortschritt. Die Arbeitsbedingungen waren katastrophal, die Maschinen veraltet, und der Druck, die Arbeitsnormen zu erfüllen, war enorm. Wer die Vorgaben nicht erreichte, wurde bestraft – mit Einzelarrest, Dunkelarrest oder Strafsport. Diese Strafen hinterließen bei Alexander tiefe psychische Narben und prägten sein Leben nachhaltig.

Die ständige Angst, die Arbeitsnormen nicht zu erreichen, führte dazu, dass Alexander kaum Pausen einlegen konnte und stets unter dem Gefühl der Bedrohung stand. Die unmenschlichen Bedingungen, die er in den Jugendwerkhöfen erlebte, zeigten ihm, wie wenig der Staat an das Wohl seiner Bürger dachte und wie sehr er bereit war, die Jugend als Arbeitsressource auszubeuten. Die Zwangsarbeit, die er als solchen bezeichnete, war für ihn eine der schmerzhaftesten und entwürdigendsten Erfahrungen seiner Jugend. Die ständige Überwachung und die fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten gaben ihm das Gefühl, ein Rädchen im System zu sein, dessen Existenz keine Bedeutung hatte.

Nach seiner Entlassung aus dem Heim, in dem er die letzten Jahre seiner Jugend verbracht hatte, sah sich Alexander erneut mit einer Form von Zwangsarbeit konfrontiert. Er wurde mit einer Arbeitsplatzbindung in den Kraftverkehr in Plauen gezwungen, was er als eine weitere Form der Kontrolle und Ausbeutung empfand. Auch hier gab es keinerlei Entwicklungsmöglichkeiten für ihn, und er wurde vom Staat überwacht, ohne dass er eine echte Chance hatte, sein Leben selbst zu gestalten. Doch trotz dieser anhaltenden Kontrolle und Ausbeutung begann Alexander in den letzten Jahren der DDR, die Wende als einen Zeitpunkt der Hoffnung zu erleben. Er traf Gleichgesinnte, die ebenfalls die Hoffnung auf Veränderung teilten. In dieser Zeit begann er zu erkennen, dass er trotz all der traumatischen Erfahrungen und der ständigen Unterdrückung ein „völlig normaler Jugendlicher“ war, der das Recht hatte, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Diese Erkenntnis war für ihn eine der wichtigsten Wendeerfahrungen. Sie half ihm, die schweren Jahre im System der DDR hinter sich zu lassen und einen Weg in ein neues Leben zu finden. Die Erinnerung an die Zwangsarbeit und die unmenschlichen Bedingungen, die er durchlebte, ist jedoch ein Teil seiner Vergangenheit, den er nie vergessen wird. Die prägenden Erfahrungen seiner Jugend haben ihn nachhaltig beeinflusst und ihm gezeigt, wie stark das System der DDR in das Leben der Menschen eingriff und wie es ihre Entwicklung verhinderte.

Redakteur/Blogger/Journalist: Arne Petrich

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