Ilko-Sascha Kowalczuk These: „Ostdeutschland als unpolitische Gesellschaft“

Buchpremiere "Freiheitsschock" von Ilko-Sascha Kowalczuk

Die Podiumsdiskussion zwischen Ilko-Sascha Kowalczuk und Judith Lobmeier zu Kowalczuks Buch Freiheitsschock beleuchtet tiefgründige Aspekte der ostdeutschen Gesellschaft und ihren Umgang mit der plötzlichen Freiheit nach dem Ende der SED-Diktatur. Das zentrale Thema, das Kowalczuk in seinem Buch untersucht, ist die These, dass viele Ostdeutsche mit dieser neuen Freiheit überfordert waren. Diese Überforderung, argumentiert er, führte zu weitreichenden sozialen und politischen Konsequenzen, die auch heute noch spürbar sind.

Die These der unpolitischen Gesellschaft
Ein zentraler Punkt der Diskussion ist Kowalczuks These, dass Ostdeutschland keine politische Gesellschaft sei. Laut seiner Analyse engagiert sich nur eine Minderheit der Ostdeutschen aktiv politisch. Ein Großteil der Bevölkerung habe, so Kowalczuk, ein obrigkeitsstaatliches Denken beibehalten, das tief in der DDR-Vergangenheit verwurzelt ist. Die über Jahrzehnte geprägten Strukturen und Denkmuster aus der Zeit des SED-Regimes wirken bis in die Gegenwart hinein. In diesem Zusammenhang spricht er von einer hohen Staatsgläubigkeit, die paradoxerweise von einem tiefen Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen begleitet wird.

Die Wurzeln dieser Einstellung liegen laut Kowalczuk in den Mechanismen der DDR, die stark auf Kontrolle und Abhängigkeit aufgebaut waren. In einem Staat, der das Leben seiner Bürger in beinahe allen Bereichen reglementierte, blieb wenig Raum für Eigeninitiative oder politischen Diskurs. Mit dem plötzlichen Zusammenbruch des SED-Regimes und der schnellen Wiedervereinigung mussten die Menschen in Ostdeutschland plötzlich die Verantwortung für ihr eigenes Leben und ihre Entscheidungen übernehmen, was für viele eine enorme Herausforderung darstellte.

Zivilgesellschaft und Demokratie
In der Diskussion betont Kowalczuk die zentrale Rolle der Zivilgesellschaft für das Funktionieren einer Demokratie. Er kritisiert, dass in Ostdeutschland eine lebendige Zivilgesellschaft, besonders außerhalb der urbanen Zentren, weitgehend fehlt. Dies führe dazu, dass demokratische Prozesse schwächer verankert seien und die politische Beteiligung geringer ausfalle. Kowalczuk verweist auf verschiedene Faktoren, die diesen Zustand erklären könnten. Dazu zählen die ökonomischen Bedingungen, die nach der Wende viele Menschen in Unsicherheit und Armut stürzten, sowie die religiösen Traditionen, die im Osten aufgrund der antikirchlichen Haltung der DDR-Regierung weniger stark ausgeprägt sind als im Westen.

Ein weiterer Grund, den Kowalczuk anführt, ist die Abwanderung junger Menschen aus ländlichen Regionen Ostdeutschlands. Diese Abwanderung entzieht dem Land nicht nur wichtige Arbeitskräfte, sondern auch potenzielle Akteure der Zivilgesellschaft, die eine moderne und partizipative Demokratie stärken könnten.

Ostalgie: Nostalgie und Idealisierung der DDR
Ein weiteres wichtiges Thema der Diskussion ist die sogenannte Ostalgie – die nostalgische Verklärung der DDR-Vergangenheit. Kowalczuk betrachtet die Nostalgie differenziert. Einerseits hält er es für normal, dass Menschen eine gewisse Sehnsucht nach ihrer Jugend empfinden, die mit der DDR-Zeit verbunden ist. Er kritisiert jedoch die Politisierung dieser Nostalgie, die zur Idealisierung der DDR als einen vermeintlich funktionierenden und gerechten Staat führt.

Diese Verklärung ignoriert laut Kowalczuk die autoritären Strukturen der DDR und die alltägliche Unterdrückung durch das SED-Regime. Kowalczuk warnt davor, dass diese idealisierte Sichtweise in vielen Familien unbewusst weitergegeben werde und somit zur Bewahrung des alten Denkens beitrage. Besonders problematisch sei, dass die Ideologie des SED-Staates auch nach 1989 nicht vollständig überwunden worden sei und sich in bestimmten sozialen und politischen Kreisen weiterhin hartnäckig halte.

Transformationsüberforderung: Ostdeutschland als „Laboratorium der Globalisierung“
Ein Vergleich zwischen Ostdeutschland und anderen osteuropäischen Ländern zieht sich als roter Faden durch die Diskussion. Kowalczuk hebt hervor, dass der Transformationsprozess in Ostdeutschland aufgrund der schnellen Wiedervereinigung radikaler und schneller verlaufen sei als in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks. Die ostdeutsche Gesellschaft musste sich in rasantem Tempo an den westdeutschen Sozialstaat und die freie Marktwirtschaft anpassen, was bei vielen Menschen zu einem Gefühl der Überforderung geführt habe. Diese Transformationsüberforderung äußerte sich in Verlustängsten und einer Sehnsucht nach der vermeintlichen Sicherheit der Vergangenheit.

Kowalczuk sieht in Ostdeutschland ein „Laboratorium der Globalisierung“. Die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, die dort nach 1989 stattfanden, seien Vorboten dessen, was anderen westlichen Gesellschaften durch die digitale Revolution und die fortschreitende Globalisierung bevorstehe. Diese Veränderungen bringen laut Kowalczuk eine nie dagewesene Unsicherheit über die Zukunft mit sich. Die Rückkehr zu traditionellen Werten und die ideologische Verklärung der Vergangenheit seien Reaktionen auf diese Unsicherheit, die Extremisten die Möglichkeit bieten, mit einfachen Antworten auf komplexe Probleme zu werben.

Rolle des Westens im Transformationsprozess
Ein weiterer Diskussionspunkt ist die Rolle des Westens im Transformationsprozess nach 1989. Kowalczuk widerspricht der These, dass der Westen kein Interesse an der Entwicklung der DDR gehabt habe. Vielmehr habe der Westen eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der Bürgerrechtsbewegung gespielt, besonders durch den Einfluss der Westmedien. Die Westmedien hätten dazu beigetragen, die Protestbewegung in der DDR zu stärken und die Bevölkerung für demokratische Werte zu sensibilisieren.

Judith Lobmeier, die ebenfalls an der Diskussion teilnimmt, betont die Bedeutung der Geschichtserzählung. Sie kritisiert die weit verbreitete Meistererzählung, die Ostdeutsche als passive Objekte des politischen Handelns darstelle. Sie erinnert daran, dass es die Ostdeutschen selbst waren, die durch ihre demokratische Entscheidung die schnelle Wiedervereinigung ermöglichten. Ebenso sei das Engagement der Bürgerrechtsbewegung entscheidend für den Sturz der SED-Diktatur gewesen. Lobmeier plädiert dafür, die Geschichte der DDR differenzierter zu betrachten und die aktive Rolle der Ostdeutschen stärker in den Vordergrund zu rücken.

Pessimistischer Ausblick und Appell für Demokratie
Die Diskussion endet mit einem pessimistischen Ausblick von Kowalczuk. Er warnt vor der Gefahr, dass Deutschland in ein staatsautoritäres System abgleiten könnte, wenn die gesellschaftlichen Herausforderungen nicht ernsthaft angegangen werden. Kowalczuk sieht in den aktuellen politischen Entwicklungen, wie dem Aufstieg populistischer Parteien und der Zunahme von Extremismus, deutliche Warnsignale für eine Krise der Demokratie.

Gleichzeitig appelliert er an das Publikum, sich für Freiheit und Demokratie einzusetzen. Kowalczuk ist überzeugt, dass die Stärkung der Zivilgesellschaft und die Förderung von politischer Bildung zentrale Maßnahmen sind, um den Herausforderungen der modernen Welt zu begegnen. Nur durch aktives Engagement und eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und Gegenwart könne eine demokratische Gesellschaft dauerhaft bestehen.

Die Podiumsdiskussion zum Buch Freiheitsschock wirft wichtige Fragen zur Transformation Ostdeutschlands nach 1989 auf. Die Herausforderungen, die die neue Freiheit mit sich brachte, und die Schwierigkeiten, sich von alten Denkmustern zu lösen, prägen die ostdeutsche Gesellschaft bis heute. Kowalczuks Analyse, die die spezifischen Erfahrungen der Ostdeutschen in den Kontext globaler Veränderungen stellt, zeigt eindrucksvoll, wie tiefgreifend die Auswirkungen dieser Transformationsprozesse sind – nicht nur für Ostdeutschland, sondern für die gesamte westliche Welt.

Autor/Redakteur: Arne Petrich

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