Am Mittwoch, dem 35. Jahrestag der Friedlichen Revolution in Leipzig, rief Bundeskanzler Olaf Scholz in einer eindringlichen Rede dazu auf, das Erbe der mutigen Demonstrationen von 1989 zu verteidigen. Mit scharfer Kritik wandte er sich gegen populistische und extremistische Gruppen, die heute den historischen Slogan „Wir sind das Volk“ missbrauchen, um demokratische Werte zu untergraben. Scholz betonte, dass dieser Satz damals nicht nur ein Ausdruck von Protest, sondern auch ein Symbol für den Mut und die Entschlossenheit war, ein unterdrückendes Regime zu stürzen.
„Tausende standen damals auf den Straßen von Leipzig und riefen ‚Wir sind das Volk‘. Es war dieser Satz, der fast ohrenbetäubend in den Himmel über Leipzig aufstieg – ein Satz, der die Angst durchbrach und eine ganze Diktatur ins Wanken brachte“, sagte Scholz. „Als jemand, der selbst aus dem Westen, aus Hamburg, kommt, habe auch ich Gänsehaut bekommen, wenn ich an diese Momente denke. Es war dieser Mut, diese Entschlossenheit, die ein System aus den Angeln hob.“
Der Kanzler verdeutlichte die historische Bedeutung dieses Aufstands und warnte vor der Vereinnahmung dieser Ereignisse durch diejenigen, die heute das politische System in Deutschland bekämpfen wollen. „Was für eine unerträgliche Verachtung für den Mut der Menschen damals, wenn heute Feinde der Demokratie diesen 9. Oktober als Plattform nutzen, um unsere demokratischen Werte zu attackieren“, so Scholz weiter.
Die Stimme der Revolution: Marianne Birthler erinnert an den Mut von 1989
Neben Scholz trat auch die DDR-Bürgerrechtlerin Marianne Birthler, die 2000 als Nachfolgerin von Joachim Gauck die Position der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen übernahm, in Leipzig ans Rednerpult. In ihrer bewegenden Rede erinnerte sie an die Zeit des Aufbruchs und den entscheidenden Moment des Sieges über die DDR-Diktatur. „Eigentlich war noch gar nicht sicher, dass es wirklich geschafft war, aber wir spürten es: Die SED hat kapituliert“, sagte Birthler. „Noch waren hunderte unserer Freundinnen und Freunde im Gefängnis, wie hier in Leipzig Gesine Oltmanns und Katrin Hattenhauer, aber an diesem Abend wussten wir, dass sie alle freikommen würden.“
Birthler betonte, wie überwältigend das Gefühl der Freiheit an jenem 9. Oktober 1989 war. „Das Gefühl, das uns damals durchströmte, war Freiheit – eine Freiheit, die wir uns erkämpft hatten, die uns niemand mehr nehmen konnte. Niemand, der in Leipzig oder in Berlin an diesen Demonstrationen teilgenommen hat, wird das je vergessen“, fügte sie hinzu. „Es war eine Revolution von unten, eine friedliche Revolution, die ohne Gewalt ein diktatorisches Regime zu Fall brachte.“
Ein Wendepunkt in der Geschichte Ostdeutschlands
Am 9. Oktober 1989 gingen rund 70.000 Menschen in Leipzig auf die Straße, um gegen das SED-Regime zu demonstrieren. Die sogenannte Montagsdemonstration, die aus einem traditionellen Friedensgebet in der Nikolaikirche hervorging, gilt als einer der entscheidenden Wendepunkte der Friedlichen Revolution. Volkspolizei und Militär waren bereit, um die Demonstranten gewaltsam auseinanderzutreiben, doch es kam nicht dazu – die Machthaber verzichteten auf Gewalt.
Die Demonstration war der Höhepunkt einer Reihe von Protesten, die seit Wochen im ganzen Land stattfanden. Ein Monat nach dieser friedlichen Großdemonstration fiel die Berliner Mauer, und das autoritäre System der DDR war am Ende. Die Ereignisse von Leipzig gelten heute als Meilenstein auf dem Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands und zur Demokratisierung des Ostens.
Das Erbe bewahren und gegen Missbrauch verteidigen
Der 9. Oktober ist seither ein Gedenktag, der an den Mut der Menschen erinnert, die sich in Leipzig und vielen anderen Städten der DDR dem Regime widersetzten. Doch wie Scholz in seiner Rede betonte, ist es unerträglich, dass ausgerechnet dieser Tag heute von extremistischen Gruppen missbraucht wird. „Wir müssen das Erbe dieser Revolution schützen und uns gegen diejenigen wehren, die ihre Werte ins Gegenteil verkehren wollen“, sagte Scholz.
Die Feierlichkeiten zum 35. Jahrestag der Friedlichen Revolution waren daher nicht nur eine Erinnerung an den historischen Erfolg der Demokratiebewegung, sondern auch eine Mahnung an die Gegenwart. Sie riefen dazu auf, die demokratischen Errungenschaften zu verteidigen und den Kampf für Freiheit und Menschenrechte fortzusetzen – gegen alle Versuche, sie durch Hass und Extremismus zu zerstören.