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Talsperren im Klimawandel: Zwischen Wassermangel und Hochwasserschutz

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In Sachsen zeigt sich der Klimawandel bereits in Form extremer Wetterereignisse: Dürren, Starkregen und Stürme nehmen zu, während die Sommertemperaturen steigen und die Niederschläge abnehmen. Die Landes­talsperrenverwaltung steht vor der Herausforderung, einerseits ausreichend Wasser für Trink- und Brauchwasserbereitstellung zu speichern und andererseits ausreichend Rückhaltekapazitäten für Hochwasserereignisse vorzuhalten.

Multifunktionale Anlagen
Sachsen betreibt über 80 Anlagenkomplexe, darunter Haupttalsperren, Vorsperren und Hochwasserrückhaltebecken. Diese Anlagen dienen der Versorgung von Städten, Landwirtschaft und Industrie, gleichzeitig sind sie wichtige Elemente im regionalen Hochwasserschutz. Die Sicherheit und Funktionsfähigkeit aller Bauwerke werden durch regelmäßige Inspektionen von Mauerwerk, Rohrleitungen und Entnahmeanlagen gewährleistet.

Überwachung der Wasserqualität
Steigende Luft- und Wassertemperaturen fördert die Entwicklung von Algenblüten und Bakterien sowie die Verringerung des Sauerstoffgehalts. Um die Trinkwasserqualität sicherzustellen, werden mehrmals wöchentlich Proben genommen und in Bezug auf über 30 Parameter untersucht, darunter pH-Wert, Nitrat und Schwermetalle. Auch Brauchwasserreservoire unterliegen strengen Kontrollen, um Gefährdungen für Industrieanlagen und die touristische Nutzung auszuschließen.

Technische Gegenmaßnahmen
Zur Stabilisierung der Sauerstoffverhältnisse kommen am Beckenboden installierte Sauerstoffmatten zum Einsatz. Diese reduzieren die Mobilisierung unerwünschter Stoffe aus Sedimenten und gleichen Sauerstoffdefizite aus. Zudem werden an der Technischen Universität Dresden hydraulische Modellversuche durchgeführt, um Extremhochwasser wie jenes von 2002 besser simulieren und steuern zu können.

Hochwasservorsorge seit 2002
Nach der Jahrhundertflut 2002 wurde das Warnsystem modernisiert und eine Landeshochwasserzentrale eingerichtet, die Zufluss- und Abflussdaten in Echtzeit auswertet. Die Trinkwassertalsperren verfügen inzwischen über rund 40 Mio. m³ zusätzlichen Rückhalteraum, um künftige Extremhochwasser abzufangen und Schäden zu minimieren.

Klimaprognosen für Sachsen gehen von einem Temperaturanstieg um zwei bis sechseinhalb Grad bis zum Ende des Jahrhunderts aus. Sommerliche Niederschläge könnten um bis zu 30 % zurückgehen, während Starkregenereignisse im Herbst zunehmen. Die vorhandene technische Ausstattung und das erweiterte Rückhaltevolumen bieten jedoch ausreichende Reserven, um sowohl auf Trockenphasen als auch auf Hochwasserspitzen reagieren zu können.

Die sächsischen Talsperren bleiben damit ein zentrales Element zur Gewährleistung der Wasserversorgung und des Hochwasserschutzes im sich wandelnden Klima.

Die letzte Flottenparade der Volksmarine der DDR 1989

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Die Ostsee glitzerte im milden Herbstlicht, als die Schiffe der Volksmarine an diesem besonderen Tag in den Hafen von Rostock einliefen. Die DDR beging ihr 40-jähriges Bestehen – und die Führung wollte noch einmal ihre militärische Stärke zur Schau stellen. Doch was als Machtdemonstration gedacht war, sollte sich schon bald als Abschiedsvorstellung entpuppen.

Eine Inszenierung zum Staatsjubiläum
Am 7. Oktober 1989 präsentierte die Volksmarine ihre Schlagkraft mit einer groß angelegten Flottenparade in der Ostsee vor Rostock. Dutzende Schiffe, darunter Raketenschnellboote, Minensucher, Fregatten und U-Jagd-Korvetten der Parchim-Klasse, nahmen an der Parade teil. Überflüge von Marinefliegern begleiteten die Inszenierung, während an Bord der Schiffe Offiziere in Paradeuniform salutierten. Die Führung der Nationalen Volksarmee wollte mit der Veranstaltung ein Zeichen setzen: Die DDR war wehrhaft, die Volksmarine kampfbereit.

Doch abseits der militärischen Posen war die Stimmung gedrückt. Bereits seit Wochen brodelte es im Land, die Proteste gegen das Regime wuchsen. Während in Rostock noch Schiffe ihre Formation hielten, waren in Leipzig bereits Zehntausende auf den Straßen. Es war eine Machtdemonstration in einem Staat, dessen Ende bereits spürbar war.

Die letzte Parade einer untergehenden Marine
Während die Schiffe der Volksmarine auf dem Wasser exerzierten, bröckelte die Macht der SED an Land. Nur einen Monat später, am 9. November 1989, fiel die Berliner Mauer. Mit der deutschen Einheit im Jahr 1990 wurde auch die Volksmarine aufgelöst. Ein Großteil der Schiffe wurde außer Dienst gestellt, einige an andere Staaten verkauft, wenige in die Bundesmarine integriert. Die letzte große Flottenparade der DDR war damit rückblickend nicht mehr als eine nostalgische Momentaufnahme – eine Erinnerung an eine Streitmacht, die kurz darauf Geschichte war.

Heute erinnert in Rostock kaum noch etwas an die große Seestreitmacht der DDR. Die Parade von 1989 bleibt in der Erinnerung als eine Inszenierung eines Staates, der seine eigene Zukunft nicht mehr bestimmen konnte. Ein letztes Aufbäumen einer Marine, die nie einen Krieg erlebte, aber dennoch für einen untergehenden Staat demonstrierte.

Mit dem Kajak durchs Saaletal: Zwischen Kulturdenkmal und Weinbergen

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Ein leiser Paddelschlag, das leise Plätschern der Saale und ein Panorama, das seit Jahrhunderten Dichter und Herrscher gleichermaßen inspiriert: So präsentiert sich der Abschnitt zwischen Rudolstadt und Naumburg jenen, die sich zu Wasser auf Entdeckungstour begeben. Eine Kajaktour auf der sächsischen Saale bietet nicht nur sportliche Herausforderung, sondern auch eine Reise durch über 800 Jahre regionaler Geschichte und eine Landschaft, die in ihrer Vielfalt ihresgleichen sucht.

Zwischen Fels und Fluss
Die Tour beginnt etwas unterhalb von Jena, in einem Flussabschnitt, der durch relativ ruhige Strömung besticht. Kurz hinter Rudolstadt jedoch mahnen zahlreiche Wehre zur Vorsicht: Sie sind auf kurzen Uferabschnitten zu umtragen und gelten als kleine Prüfsteine für erfahrene Paddler. Besonders an der Stelle bei Porsten-Dorf teilt sich das Gewässer: Links fließt die Lache – der offiziell ausgeschilderte Paddelweg –, rechts der eigentliche Saalearm, der landschaftlich allerdings reizvoller ist.

Gerade bei Niedrigwasser zeigt sich die Saale hier von ihrer tückischen Seite: Untiefen und Treibgut können den Vortrieb stark erschweren. „Man darf die Felsen nicht unterschätzen“, warnt ein ortsansässiger Kanuguide. „Vor allem rund um Burg Saaleck und die Rudelsburg nagt die Strömung unaufhaltsam am Muschelkalkgestein – wer sein Paddel unbedacht aufsetzt, riskiert ein Verhaken.“

Goethes Balkon Thüringens
Wer den Blick hebt, sieht auf den steilen Muschelkalkfelsen die weltbekannten Dornburger Schlösser über dem Saaletal thronen. Bereits Johann Wolfgang von Goethe zog es hierher: Das Renaissance-Schloss, in dem er einige Wochen residierte und die sogenannten Dornberger Gedichte verfasste, gilt als „Balkon Thüringens“. Daneben zeugen das mittelalterliche Alte Schloss und das Rokoko-Lustschlösschen von den wechselvollen architektonischen Epochen.

Burgenpaar und Dichterlied
Gut geschützt in einem engen Talabschnitt stehen Burg Saaleck und die Rudelsburg – Keimzellen mehrerer regionaler Sagen und Schauplätze des bekannten Lieds „An der Saale hellem Strande“. Die kleinere Burg Saaleck aus dem 12. Jahrhundert verlor im Zuge der Reformation an Bedeutung, heute erinnern nur noch die beiden runden Türme an ihre einstige Wehrhaftigkeit. Die Rudelsburg hingegen, ein Wahrzeichen des Saaletals, wurde einst erbaut, um die alte Fernstraße entlang des Flusses zu kontrollieren. Von ihrer Plattform eröffnet sich ein weiter Blick ins Tal und auf flussauf- wie abwärts gelegene Weinberge.

Wein und Domstadt
Kurz vor Naumburg kündigen sanfte Hügel mit Reben die Saale-Unstrut-Region an – das nördlichste Qualitätsweinanbaugebiet Deutschlands. Bei Blütengrund, wo die Unstrut in die Saale mündet, endet die Paddeltour. Während im Frühling Obstbaumwiesen in Blütenpracht erstrahlen, locken die Terrassenweinhänge im Herbst mit kräftigen Rotweinen.

Ein Bummel durch Naumburg rundet den Ausflug ab: Die fast tausendjährige Domstadt beeindruckt mit ihrem romanischen Dom St. Peter und Paul, prunkvollen Fachwerkhäusern und verwinkelten Gassen.

Die Saale offenbart auf knapp 60 Flusskilometern zwischen Rudolstadt und Naumburg ein Kaleidoskop aus Natur, Kultur und Geschichte. Sie fordert Kondition und Achtsamkeit, belohnt aber mit spektakulären Ausblicken – sei es auf historische Bauwerke, schroffe Kalkfelsen oder terrassierte Weinberge. Eine Tour, die Sportlern und Kulturliebhabern gleichermaßen unvergessliche Eindrücke schenkt.

Günter Schabowski – Ein Insider berichtet: So brach das DDR-Regime zusammen

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Im Rückblick auf eine der turbulentesten Zeiten deutscher Geschichte bietet das Interview mit Günter Schabowski aus dem Jahr 1990 brisante Einblicke in den finalen Umbruch in der DDR. Damals als SED-Sekretär für Informationsfragen tätig, erinnert sich Schabowski an die letzten, chaotischen Monate, in denen das autoritäre System seinen Halt verlor – ein Prozess, der nicht zuletzt durch interne Fehler und eine unflexible Führungselite befeuert wurde.

Die Illusion der Stabilität
Schabowski beschreibt eindrücklich, wie die Führung der SED die Zeichen des Wandels ignorierte und den wachsenden Reformdruck sowohl innerhalb der Bevölkerung als auch aus dem internationalen Raum lange Zeit unterschätzte. Die festgefahrene Ideologie, die in der gesamten DDR vorherrschte, verlieh der Partei ein trügerisches Selbstbewusstsein. Doch unter der Oberfläche brodelte bereits lange Zeit die Unzufriedenheit, die sich in gefälschten Wahlergebnissen und manipulierten Prozessen manifestierte – ein klarer Bruch zwischen der offiziellen Darstellung und der gelebten Realität.

Starre Strukturen im Politbüro
Ein zentrales Element der damaligen Machtstruktur war das Politbüro. In wöchentlichen Sitzungen, geprägt von festen Hierarchien und ritualisierten Abläufen, traf sich die Führungselite, um über bis zu 20 Tagesordnungspunkte zu debattieren – von Wirtschafts- bis Außenpolitik. Die strenge Sitzordnung und der Mangel an kritischem Austausch zwischen den Mitgliedern spiegelten eine Atmosphäre wider, in der abweichende Meinungen kaum Platz fanden. Selbst innerhalb dieses Gremiums kam es zu internen Konflikten, als Schabowski und andere Funktionäre begannen, die anhaltende Missachtung der Realität zu hinterfragen.

Der Druck der historischen Ereignisse
Die Ereignisse im Herbst 1989 – von den manipulativen Kommunalwahlen bis hin zu den massiven Montagsdemonstrationen in Leipzig – führten zu einem wachsenden Druck auf das System. Besonders prägnant ist der Moment, als Schabowski am 9. November 1989 während einer Pressekonferenz den Ausreisebeschluss verkündete. Obwohl er nicht mit den unmittelbaren Reaktionen gerechnet hatte, löste diese Ankündigung eine Kettenreaktion aus, die den Fall der Berliner Mauer und den Zusammenbruch des DDR-Regimes beschleunigte.

Interne Auseinandersetzungen und der Sturz Honeckers
Ein weiterer Wendepunkt war der interne Machtkampf im Politbüro. Als sich ab dem 8. Oktober konspirative Aktionen gegen Erich Honecker formierten, gerieten selbst die obersten Kreise der Führung in einen offenen Konflikt. Schabowski berichtet, wie sich innerhalb kürzester Zeit eine kritische Masse formierte, die letztlich dazu führte, dass Honecker am 17. Oktober 1989 abgesetzt wurde. Diese internen Machtverschiebungen machten deutlich, dass das System sich nicht nur gegen den Druck von außen, sondern auch gegen die eigene Starrheit wehrte.

Nachwirkungen und Selbstreflexion
Das Interview mit Schabowski zeigt, wie tiefgreifend die ideologischen und strukturellen Fehler der DDR-Führung das Ende des Staates einleiteten. Die abschließende Ausschließung Schabowskis aus der SED-PDS im Januar 1990 unterstreicht den symbolischen Bruch mit der alten Ordnung. Die Ereignisse jener Tage und Monate erinnern daran, dass ein autoritäres System nur so lange Bestand haben kann, wie es sich seiner Realität verschließt – und dass interne Widersprüche letztlich den Untergang einleiten.

Mit seinen Erinnerungen liefert Schabowski nicht nur ein persönliches Zeugnis, sondern auch eine Mahnung: Die Unfähigkeit, sich den Herausforderungen der Zeit zu stellen, kann fatale Konsequenzen haben – für Einzelne ebenso wie für ganze Gesellschaften.

Bernburgs Renaissance zwischen Altbau-Charme und modernem Wohngefühl

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Bernburg/Saale. Ein Vierteljahrhundert lang lag der Saalplatz im Dornröschenschlaf – Ruinen, Verfall und unklare Besitzverhältnisse prägten das Bild direkt am Ufer der Saale. Nun erlebt das Herz der Stadt eine Renaissance: Ein Ensemble aus historischer Bausubstanz und modernen Neubauten haucht dem alten Quartier neues Leben ein.

Die örtliche Wohnstättengesellschaft nahm sich vor einigen Jahren der Aufgabe an, Alt und Neu in Einklang zu bringen und die Identität des Saalplatzes zu bewahren. Die Planer verfolgten dabei zwei zentrale Ziele: den Erhalt tragfähiger historischer Fassaden und den behutsamen Ersatz unrettbarer Bauteile durch qualitätsvolle Neubauten, die mit der umliegenden Architektur korrespondieren.

Im Inneren überraschen lichtdurchflutete Grundrisse mit großzügigen Fensterfronten, die den Blick auf Fluss und Renaissance-Schloss freigeben. Komfortmerkmale wie Fußbodenheizung, Aufzüge und integrierter Parkraum im Souterrain verbinden modernen Wohnkomfort mit historischem Ambiente. Ein neu eingeführtes Photovoltaik-Mieterstrommodell erzeugt nachhaltigen Energie­nachschub direkt vor Ort.

Die neu gepflasterten Promenaden und Uferwege laden zu Spaziergängen ein, während Cafés und Ateliers am Saaleufer lebendige Treffpunkte schaffen. Das Quartier ist zum Schauplatz urbaner Belebung geworden, das Bewohner und Besucher gleichermaßen anzieht.

Der Weg zum Erfolg war jedoch nicht einfach: Jahrelang ungeklärte Eigentumsfragen und bürokratische Hürden ließen das Gelände brachliegen. Erst durch die enge Zusammenarbeit von Kommune, Investoren und Kulturbehörden konnte das Projekt realisiert werden.

Das Ergebnis ist ein Beleg gelungener Stadtplanung: Der Saalplatz ehrt die Baugeschichte der Stadt, erfüllt zugleich aber moderne Wohnansprüche. Die Verbindung von Traditionsbewusstsein und zeitgemäßem Design verleiht dem Viertel neuen städtischen Schwung und macht es zu einem lebendigen Teil der Stadtlandschaft.

Besiegt und befreit – Kindheitserinnerungen an das Ende des Zweiten Weltkriegs

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Als die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs heraufzogen, lebte der damals achtjährige Volker Schobeß in Potsdam mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder in einem Haus unweit der Havel. In einem Interview erinnert er sich an die gespenstische Atmosphäre jener Tage, in denen Angst und Hoffnung dicht beieinanderlagen.

„Nach Kriegsende war das natürlich für uns Kinder eine aufregende Zeit. Wir haben gemerkt, dass die Eltern – also es war ja nur die Mutter – alle in Ängste waren, was passiert noch, was besteht uns bevor“, berichtet Schobeß. Die Erinnerung sei geprägt von einem späten Nachmittagsruf: „Der Hausdruck wieder, die Russen kommen, der Schreckensruf.“ Für die Familie bedeutete das: hastiges Herunterfahren, Keller aufsuchen, Schutz suchen.

Im engen Luftschutzkeller, den die Bewohner notdürftig mit Decken ausgelegt hatten, lagen die Geschwister Seite an Seite. „Dann kamen zwei, drei Russen zu uns in den Keller“, fährt Schobeß fort. „Wir lagen unter Decken sozusagen als Kinder … und die haben uns auf der Brust abgekratzt.“ Die Geste, so unbeholfen und archaisch sie erscheint, sprach einerseits von Misstrauen und Angst, andererseits von Neugier und der Suche nach Kontakt zwischen Besatzern und Bevölkerung.

Für viele Zeitzeugen markiert diese Phase eine Zäsur: Die Erfahrung, dass es kein Zurück mehr gab, und zugleich der erste Schritt in eine ungewisse Zukunft. Schobeß erinnert sich, wie seine Mutter in hektischer Eile Proviant sammelte, während er und sein Bruder die Geräusche der einmarschierenden Truppen hörten – Artillerie und schwere Panzerketten. Noch heute spürt er den Schreck, als eine Granate in der Nähe einschlug und der Keller erzitterte.

Doch trotz der Furcht habe sich bald ein Gefühl von Befreiung breitgemacht, erklärt der heute 88-Jährige. „Alles war zerstört, aber mit einem Schlag war der Schrecken des Krieges vorbei.“ In den folgenden Tagen öffneten sich für die Verbliebenen im zerstörten Potsdam neue Perspektiven: erste Rationen, erste Begegnungen mit Rotarmisten, die vielfach freundlich und zurückhaltend auftraten, und die allmähliche Erkenntnis, dass ein langer Leidensweg zu Ende ging.

Schobeß’ Erinnerungen sind mehr als Kindheitserlebnisse – sie sind ein Stück Zeitgeschichte, das von der Verunsicherung, aber auch der Zuversicht jener Tage berichtet. In seinen Erzählungen verbindet sich das Bild einer zerstörten Stadt mit dem Aufbruch in eine neue Zeit, in der Hoffnung und Angst noch tagtäglich miteinander kämpften.

Ein letzter Versuch, den Exodus zu stoppen – Die DDR-Führung im Würgegriff der Wende

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Am 10. November 1989 richtete sich die DDR-Führung in einem historischen Fernsehbeitrag des Jugendformats „Elf 99 – Der Jugendnachmittag“ in einer letzten Anstrengung an ihre Bürger. In einer vermeintlich vertrauensvollen Ansprache kündigte der damalige Innenminister Friedrich Dickel radikale Neuerungen an, die dazu dienen sollten, den unaufhaltsamen Strom der Ostdeutschen in den Westen einzudämmen.

Neue Regelungen in turbulenten Zeiten
Mit ruhiger, fast inszenierter Gelassenheit erklärte Dickel, dass ab sofort alle Volkspolizeikreisämter Anträge für Privatreisen – insbesondere in die Bundesrepublik Deutschland und nach West-Berlin – entgegennehmen würden. Ziel dieser Maßnahmen war es, den massenhaften Exodus zu bremsen, der über Monate hinweg das DDR-Regime erschütterte. Die angekündigten Verfahren sollten nicht nur kurzfristig greifen, sondern dauerhaft Teil des neuen Reisegesetzes werden. So sollte das Verfahren der Antragstellung – angeblich auch an Wochenenden möglich – den Bürgern Sicherheit bieten und unüberlegte, spontane Grenzübertritte verhindern.

Inszenierung einer Entspannungspolitik
In der Ansprache betonte Dickel immer wieder die Notwendigkeit von Besonnenheit und Verantwortungsbewusstsein. „Nur so kann sichergestellt werden, dass der grenzüberschreitende Reiseverkehr geordnet abläuft“, so sein Appell. Neben der Einführung vereinfachter Antragsverfahren wurden auch umfangreiche infrastrukturelle Maßnahmen angekündigt: Neue Grenzübergänge an bekannten Berliner Orten wie der Glienicker Brücke, dem Potsdamer Platz oder der Eberswalder Straße sollten – angeblich noch am kommenden Wochenende – in Betrieb gehen. Auch der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, mit zusätzlichen Busverbindungen und der Eröffnung weiterer U-Bahnhöfe, war Teil eines umfassenden Versprechens, die Grenzen nicht nur politisch, sondern auch logistisch neu zu ordnen.

Die bittere Ironie des Wandels
Doch während Dickel in rhetorisch gut einstudierten Phrasen von geordneter Umstellung sprach, war die Realität eine ganz andere. In den Stunden nach dem Fall der Mauer waren die Bürgerinnen und Bürger nicht länger bereit, auf bürokratische Genehmigungen zu warten. Viele nutzten die neu gewonnene Freiheit und überquerten die Grenze – ob für einen kurzen Besuch oder als endgültiger Abschied von der alten DDR. Die angekündigten Maßnahmen wirkten auf den Punkt der Inszenierung reduziert: Eine Art letzte Belehrung, die die Kontrolle über ein längst entgleitendes System zurückgewinnen sollte.

Die Ironie des Moments schärft sich noch im Rückblick: Nur neun Monate zuvor war der junge Ost-Berliner Kellner Chris Gueffroy als letztes Todesopfer an der Berliner Mauer erschossen worden – ein schmerzlicher Beleg für die Brutalität eines Regimes, das zu seinen eigenen Mitteln und Werten stehen musste. Während die Grenzsoldaten für ihre Rolle sogar Auszeichnungen und Prämien erhielten, blieb der Preis für den einfachen Menschen unermesslich hoch.

Ein Zeugnis des Umbruchs
Der Beitrag von „Elf 99 – Der Jugendnachmittag“ dokumentiert mehr als nur die formalen Neuerungen in einem sich auflösenden Staatsapparat. Er ist ein Zeugnis des Umbruchs, in dem offizielle Versprechen, technokratische Maßnahmen und die Realität des Massenexodus aufeinanderprallten. Die Ansprache Friedrich Dickels, die in ihrer nüchternen Rhetorik versuchte, den beginnenden Wandel zu kontrollieren, blieb letztlich ein symbolischer Versuch, den Untergang eines Systems aufzuhalten, das schon längst in die Geschichte eingegangen war.

In diesem Spannungsfeld zwischen Staatsanspruch und gelebter Freiheit manifestiert sich der wahre Kern der Wende: Der Moment, in dem die offizielle Ordnung der DDR nicht mehr in der Lage war, den Drang der Menschen nach Freiheit und Selbstbestimmung zu bändigen – ein Moment, der den Beginn einer neuen Ära markierte.

Bauwagen statt Bungalow: Ein DDR‑Kurzurlaub in Gager 1975/76

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Im Sommer 1975 brach eine Familie aus dem Vogtland zu ihrem längst traditionellen Kurzurlaub auf die Insel Rügen auf. Ziel war Gager, ein kleiner Ort auf der Halbinsel Mönchgut, der in der DDR vor allem für seinen weitläufigen Campingplatz bekannt war. Dort, zwischen schilfbewachsenen Boddenbuchten und den steilen Kreideklippen des Mönchguts, verbrachten die Urlauber eine Woche in einem Bauwagen – Bungalows waren damals Luxus.

Schon die Anreise mit einem surrenden Skoda und dem obligatorischen „Wartbusch“ – eine spielerische Verballhornung des Trabant-Namens – stimmte auf eine Zeitreise in den DDR-Urlaubsalltag ein. Am Campingplatz angekommen, suchte man sich zwischen Reihen bunt bemalter Bauwagen die Nummer 578 aus, hinter der sich ein einfacher, aber gepflegter Strandkorb verbarg. Ein kleiner Schneemann aus feuchtem Sand – inoffiziell „Zensur-Schneemann“ genannt – verdeckte die kühne Pose einer Fotografie, die weder von Groß noch Klein geduldet wurde.

Das Inselleben bestand aus wenig mehr als plaudernden Nachbarn, Spaziergängen am endlos weiten Strand und dem Sammeln kleiner Schätze: Federballschläger, verlassene Spielzeuge, versteckte Fahrräder und ein selbstgebautes Geschicklichkeitsspiel namens „Ruckzuck“ – eine Art Rugbyball an zwei zehn Meter langen Zügen, das zum Gedächtnistraining und Schulterschwung-Contest diente. Ostsee­gänger wagten sich trotz Quallen und kühler Winde ins Wasser; mittags, wenn die Sonne höher stieg, luden warmere Fluten zum Baden ein.

Nur wenige Kilometer entfernt warteten nachmittags Ausflugsziele wie das Bauernmuseum in Göhren, wo akribisch restaurierte Fachwerkhäuser einen Einblick in ländliches Leben gaben. In Sellin ließ die Seebrücke Erinnerungen an mondäne Kurorte wach werden: einst prunkvoll mit Louis Café und Filmaufnahmen, nun ein stiller Zeuge vergangener Ostseepracht.

Im Yachthafen von Gager, kaum berührt von westdeutschem Yachtboom, lagen leise brummende Zweitakter unter segelnden Traditionsschiffen. Mit dem Gummi­boot saß der Familienvater auf der Kiste, bereit zum Fischen, während der Sinn für Idylle und Bescheidenheit herrschte. Kaum jemand ahnte, dass nur wenige Jahre später die großen politischen Umwälzungen die DDR-Urlaubsorte verändern würden.

Als die Vogtland-Familie nach einer Woche die Rückreise ins Bergland antrat, hinterließ sie Spuren in vergilbten Dias und verblassten Erinnerungen. Gager 1975/76 steht heute stellvertretend für die genussvolle Einfachheit, die viele Ostdeutsche im Urlaub suchten: ein Bauwagen am Bodden, laue Sommerabende, improvisierte Spiele und das Gefühl, auch mit wenig viel erleben zu können. Diese Episode erzählt von einer Zeit, in der ein kurzer Trip ans Meer eine besondere Form von Freiheit bedeutete.

Dzierzynski’s Soldaten – Lehrfilm als Spiegelbild der DDR-Propaganda

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Am Rande des Mansfelder Hügellandes, einer Region, in der der Bergbau über Jahrhunderte das Leben der Menschen prägte, wurde einst ein Lehrfilm produziert, der heute weit mehr ist als ein simples militärisches Trainingsdokument. Der Film Dzierzynski Soldaten – Lehrfilm über das MfS-Wachregiment „Felix Edmundowitsch Dzierzynski“ bietet einen vielschichtigen Einblick in das Selbstverständnis und die ideologische Schulung der Soldaten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Er dient als eindrucksvolles Beispiel staatlich gelenkter Propaganda, in der Disziplin, technische Präzision und ideologischer Eifer untrennbar miteinander verwoben sind.

Bereits in den einleitenden Szenen wird eine Region porträtiert, in der die Tradition des Bergbaus und der Arbeitersolidarität nicht nur geografisch, sondern auch symbolisch verankert ist. Der Erzähler, ein Soldat namens Andreas Schäfer, nimmt den Zuschauer mit auf eine Reise in den militärischen Alltag des Wachregiments. Schäfer berichtet aus erster Hand von seinen Erfahrungen in der Ausbildung – von den ersten Schritten, als er noch ein unerfahrener Rekrut war, bis hin zu den harten Härtetests, die nicht nur körperliche Ausdauer, sondern auch ideologische Festigkeit forderten.

Der Film zeigt in akribisch inszenierten Sequenzen, wie sich die neuen Soldaten in standardisierte Formationen einfinden müssen, in denen jeder Handgriff, jeder Gruß und jede Bewegung einem übergeordneten Drill unterliegt. Doch hinter dieser militärischen Routine verbirgt sich mehr als reine Technik: Es ist ein Instrument, das den kollektiven Geist stärken und die Loyalität gegenüber dem sozialistischen Staat untermauern soll. Die Rekruten erlernen den Umgang mit verschiedensten Waffen – von der Pistole bis zur panzerbrechenden Waffe – wobei der Moment des Waffenempfangs als symbolischer Akt der Übernahme einer großen Verantwortung inszeniert wird.

Doch nicht nur die physische Ausbildung stand im Mittelpunkt des Lehrfilms. Ein ebenso wichtiger Aspekt war die politische Indoktrination. In zahlreichen Passagen wird der Klassenkampf thematisiert und die Aufgabe der Soldaten als Verteidiger des Sozialismus gegen innere und äußere Feinde propagiert. In feierlichen Zeremonien, in denen Fahneneide und Paraden zentrale Rituale darstellen, treten hochrangige Funktionäre wie Armeegeneral Erich Mielke und Generalmajor Elsner auf. Ihre Auftritte sollten die Richtigkeit und Unverrückbarkeit der sozialistischen Ideale untermauern und den Soldaten als lebendige Verkörperungen dieser Ideologie erscheinen lassen.

Besonders auffallend ist die Symbolik, die sich durch den gesamten Film zieht. Die einheitliche Uniform, das präzise choreografierte Marschieren und die wiederholten militärischen Kommandos vermitteln den Eindruck von absoluter Ordnung und Disziplin. Diese Elemente sind nicht nur Ausdruck technischer Exzellenz, sondern auch ein Machtinstrument: Der Einzelne wird in den Dienst eines Kollektivs gestellt, in dem individuelle Eigenheiten zugunsten eines strikten Gruppenzusammenhalts in den Hintergrund treten. Die soldatische Haltung, die hier vermittelt wird, fordert ein kompromissloses Unterordnen der persönlichen Identität unter das Ziel, den Staat und dessen Ideologie zu schützen.

Der Lehrfilm gelingt es, den Soldaten als Teil eines unfehlbaren Systems darzustellen. Jede Trainingseinheit, jeder Härtetest, jede technische Übung – von der Bedienung modernster Kommunikationsanlagen bis hin zur sicheren Fahrzeugführung – wird als Baustein in einem übergeordneten Apparatsystem inszeniert, das unter allen Umständen funktionstüchtig und kampfbereit sein muss. Diese Darstellung vermittelt nicht nur militärische Effizienz, sondern suggeriert auch, dass der sozialistische Staat über sämtliche Mittel verfügt, um seine Macht und Sicherheit zu gewährleisten. Dabei fließt auch die moderne Technik als Garant für die Einsatzbereitschaft ein, was dem Film eine zusätzliche Dimension verleiht: Er vereint die traditionelle Idee des Arbeiter- und Pioniergeistes mit dem Anspruch, technologisch auf dem neuesten Stand zu sein.

Die ideologische Dimension des Films darf dabei nicht unterschätzt werden. Er dient als Instrument, um den Soldaten ein bestimmtes Weltbild zu vermitteln, in dem der Sozialismus als einzige rettende Kraft gegen den Faschismus und die Bedrohungen von außen dargestellt wird. Die Verknüpfung von militärischer Ausbildung und politischer Schulung zielte darauf ab, ein Klima der Konformität zu schaffen, in dem abweichendes Denken gar nicht erst in Betracht gezogen wurde. Die Sprache des Films – geprägt von Wiederholungen, strengen Befehlen und ideologisch aufgeladenen Formulierungen – sollte den Soldaten nicht nur disziplinieren, sondern sie auch emotional an das System binden. Jeder Befehl, jede wiederholte Phrase trug dazu bei, den kollektiven Geist zu formen und den Einzelnen in eine größere, als überlegen dargestellte Gemeinschaft einzubetten.

Historisch betrachtet lässt sich der Lehrfilm als Zeugnis der Mechanismen interpretieren, mit denen totalitäre Regime ihre Macht sichern wollten. Die intensive Verknüpfung von Körper, Geist und Technik diente dazu, die Loyalität der Soldaten zu festigen und sie zu echten Hütern des sozialistischen Systems zu machen. Die Bezugnahme auf revolutionäre Vorbilder wie Felix Dzierzynski und Lenin sollte zudem eine historische Legitimation schaffen und den Eindruck vermitteln, dass die gegenwärtigen Kämpfer die Erben einer langen, revolutionären Tradition seien. Die Soldaten werden so als direkte Fortführung dieser historischen Kampftradition inszeniert – als die modernen Verteidiger einer Ideologie, die in den Augen des Staates über allem steht.

Ein weiterer zentraler Aspekt des Films ist die Darstellung des Alltags als Teil eines großen, ideologisch aufgeladenen Projekts. Jede Tätigkeit – sei es das akribische Training, die präzise Wartung der Waffentechnik oder die sorgfältige Durchführung zeremonieller Aufgaben – wird als Handeln von höchster gesellschaftlicher Relevanz präsentiert. Diese Propagandastrategie sollte den Eindruck erwecken, dass selbst die alltäglichsten Handgriffe unmittelbaren Einfluss auf die Sicherheit und Stabilität des Staates haben. Die Soldaten wurden so zu Symbolträgern eines Systems, in dem jeder Aspekt des Lebens politisch aufgeladen und zu einem Teil des übergeordneten Kampfes gemacht wurde.

Doch trotz der beeindruckenden Inszenierung technischer und militärischer Kompetenz offenbart der Lehrfilm auch die Schattenseiten eines autoritären Systems. Die unbedingte Unterordnung des Individuums zugunsten des Kollektivs, der Zwang zur ideologischen Konformität und die nahezu religiöse Verehrung der militärischen Rituale verdeutlichen, wie stark persönliche Freiheiten und kritisches Denken in der DDR beschnitten wurden. Die Soldaten, die hier als unfehlbare Kämpfer dargestellt werden, sind zugleich ein Symbol für die Opferbereitschaft eines Systems, das die Individualität dem staatlichen Auftrag unterordnet.

Der Lehrfilm Dzierzynski Soldaten ist somit weit mehr als ein reines Ausbildungsdokument. Er ist ein komplexes Propagandainstrument, das versucht, den Soldaten eine doppelte Identität aufzuzwingen: Einerseits als hochqualifizierte militärische Fachkräfte, die mit modernster Technik und strenger Disziplin ausgestattet sind, andererseits als politisch indoktrinierte Kämpfer, die den Sozialismus als einzige rettende Kraft gegen alle Bedrohungen verteidigen. Diese doppelte Inszenierung lässt sich als Versuch interpretieren, den sozialen Zusammenhalt und die ideologische Einheit in einem autoritären Staat zu sichern.

Aus heutiger Sicht bietet der Lehrfilm einen faszinierenden Einblick in die Mechanismen staatlicher Kontrolle und Propaganda in der DDR. Er zeigt, wie eng militärische Ausbildung, technische Innovation und ideologische Indoktrination miteinander verknüpft waren, um ein System zu schaffen, in dem der Einzelne seine Identität in der Zugehörigkeit zu einer übergeordneten, als überlegen dargestellten Gemeinschaft fand. Gleichzeitig wird deutlich, dass diese Verbindung immer auch mit einem erheblichen Verlust an persönlicher Freiheit einherging – ein Aspekt, der heute kritisch hinterfragt werden muss.

Die Analyse des Lehrfilms macht deutlich, dass Propaganda weit mehr ist als ein rein manipulativer Diskurs. Sie ist ein vielschichtiges Instrument, das Sprache, Symbolik und Technik einsetzt, um Macht zu legitimieren und zu festigen. Der Lehrfilm Dzierzynski Soldaten bleibt damit ein bedeutendes historisches Dokument, das uns nicht nur die militärischen und technischen Ambitionen der DDR vor Augen führt, sondern auch die tieferen ideologischen Wurzeln eines Systems offenbart, das individuelle Freiheiten dem Kollektiv unterordnete.

Im Spannungsfeld zwischen militärischer Effizienz und ideologischer Indoktrination zeigt der Lehrfilm, wie ein autoritärer Staat versuchte, seine Bürger zu formen und zu kontrollieren – eine Lektion, die auch heute noch als mahnendes Beispiel für die Gefahren staatlicher Propaganda dient. Dabei bietet der Film nicht nur einen Rückblick in eine längst vergangene Ära, sondern regt auch zur kritischen Reflexion über die Macht der Sprache und der Medien in der Gestaltung gesellschaftlicher Realitäten an.

Die Talsperre Bautzen – Von der Umsiedlung bis zum Klimawandel

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Bautzen. Inmitten der sanften Hügel der Oberlausitz liegt die Talsperre Bautzen, ein mächtiges Bauwerk, das seit seiner Fertigstellung 1972 den Wasserhaushalt der Spree regelt. Doch hinter dem imposanten Damm verbirgt sich nicht nur Ingenieurskunst, sondern auch die Geschichte eines Dorfs, das vollständig dem Wassermassen weichen musste, und die Herausforderungen einer Region, die sich nach dem Ende der Braunkohleverstromung und in Zeiten zunehmender Trockenheit neu erfinden muss.

Vom Dorf Malses zur Großbaustelle
Als im Herbst 1972 die Bagger anrückten, gehörte das Dorf Malses der Vergangenheit an. „Im Herbst 72 mussten wir raus“, erinnert sich Jörg, Jahrgang 1941, dessen Familie seit Generationen in dem kleinen Ort gelebt hatte. Malses zählte gerade 18 Häuser, ein Rittergut und einen alten Steinbruch – heute ragen nur noch fundamente aus dem türkisblauen Wasser empor. Die Umsiedlung verlief im Geiste der zentralen Planwirtschaft: Entschädigungen wurden bezahlt, doch Standortwünsche der Betroffenen blieben unberücksichtigt. „Vier Standorte hatte ich angegeben – alles abgelehnt“, so Jörg, der damals mit seiner Familie in einen gedrungenen Plattenbau in Bautzen umzog.

Ingenieurskunst im VEB-Rhythmus
Bereits während seines Studiums an der Technischen Universität Dresden beschäftigte sich Jörg mit Variantenuntersuchungen zum Umleitungssteuern der künftigen Talsperre. Sein Diplomprojekt von 1965 legte den Grundstein für eine der ersten bituminösen Außenhautdichtungen in der DDR. In monatelanger Feinarbeit wurde eine Schlitzwand 60 Zentimeter breit in den Boden getrieben und mit Tonzementbeton verfüllt. „So eine Talsperre ist kein Industrieprodukt, sondern ein Unikat – Topografie, Baugrund und Baustoffeinsatz entscheiden über jeden Handgriff“, erklärt Jörg.

Gebaut für Generationen – doch nicht ohne Tücken
Der Bau stand von Anfang an unter dem Druck, Maßstäbe zu setzen. Unerwartete Schadstoffvorkommen in der Vorsperre, Abweichungen zwischen Bestandszeichnungen und Realität, und ein überraschend instabiler Baugrund zwangen die Planer, immer wieder zu improvisieren. „Der Fangedamm um den Entnahmeturm musste neu geplant werden – der Baugrund hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht“, berichtet der Ingenieur. Solche kleinen Pannen seien bei Großbaustellen normal, doch erst die spätere Sanierung zeigte, wie prekär der Zustand der Asphaltdichtung geworden war: Ausgeplante Fugenstöße und poröse Flächen gefährdeten die langfristige Sicherheit.

Bewährung in Extremsituationen
Die Talsperre trotzte allen Hochwassern: 1981, 2010 und 2013 registrierte sie enorme Wassermengen, ohne einen einzigen bautechnischen Schaden davonzutragen. „Die Anlage hat vollumfänglich funktioniert“, zieht Jörg Bilanz. Wenn die regulären Grundablässe versagen, agiere der Überlauf wie eine Wanne, die sich selbst entleert, sobald sie überläuft. Damit schützt der Damm nicht nur die Spreeauen vor Katastrophen, sondern bewahrt auch den Unterlauf vor extremen Flutwellen.

Strukturwandel und Wasserhaushalt
Mit dem Kohleausstieg 2030 wird die Region vor neue Aufgaben gestellt. Jahrhunderte der Braunkohleförderung haben den Grundwasserspiegel tief abgesenkt und natürliche Flussverläufe zerstört. Bis zu sechs Milliarden Kubikmeter Wasser müssten zurückgeführt werden, um den ursprünglichen Grundwasserstand zu erreichen. Gleichzeitig drohen lange Trockenperioden: „Wir haben zunehmend trockene Sommer, in denen kaum noch Niederschlag kommt“, warnt Jörg. Die Talsperre Bautzen ist eines der wenigen Reservoirs, das noch ausreichend Rückhalteräume bietet. Geplant ist, rekultivierte Tagebaurestseen in das Wassermanagement einzubeziehen, um die Lausitz wassertechnisch „neu aufzustellen“.

Generationenaufgabe Wasserbewirtschaftung
Der Blick in die Zukunft erfordert ein Umdenken: Wasser ist keine grenzenlose Ressource, sondern ein kostbares Gut. Jeder Liter, der heute aus der Talsperre abgelassen wird, muss langfristig kalkuliert sein. Für die kommenden 50 bis 70 Jahre ist die Lausitz mit der Wiederherstellung eines natürlichen Wasserhaushalts und der Anpassung an den Klimawandel beschäftigt. „Es geht nicht nur um Klimaschutz, sondern um Prävention – jeder ist aufgerufen, Verantwortung zu übernehmen“, so der Ingenieur.

Fazit: Die Talsperre Bautzen ist mehr als ein Damm aus Beton und Asphalt: Sie ist Zeuge von Zwangsum­siedlungen, Projektionsfläche für das ingenieurtechnische Können der DDR und zentrales Element im Wasser­management einer Region im Wandel. Ihr Wert für Hochwasserschutz wie für die künftige Wasserverteilung in der Lausitz wird in Zeiten wachsender Trockenheit kaum zu überschätzen sein.