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Wie Dresden zum Zentrum der Kamerawelt aufstieg

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Dresden – Einst war Dresden das pulsierende Herz der globalen Fototechnik, ein Ort, an dem über ein Jahrhundert lang Fotogeschichte geschrieben wurde und Kameras „auf dem Weltmarkt schon spitze“ waren. Heute erinnern nur noch Museumsstücke und Erinnerungen an eine blühende Industrie, die mit wegweisenden Erfindungen die fototechnische Entwicklung vorantrieb.

Dresdens verlorene Bilder: Aufstieg und Fall der Kameraindustrie von Weltruf
Die Geschichte der Dresdner Kameraindustrie begann vor allem nach 1880, als sich ein Firmenimperium bildete, das die weltweit besten Fotogeräte herstellte. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg genossen Kameras aus Dresden Weltruf und standen für außergewöhnliche Präzisionsarbeit. Ein Meilenstein war die IHG, aus der 1936 die erste Kleinbild-Spiegelreflexkamera der Welt kam. Auch die Zeiss Ikon AG spielte eine große Rolle, nicht nur bei Fotoapparaten, sondern auch in der Kinotechnik.

Doch der Februar 1945 brachte eine Zäsur: Die Bomben auf Dresden zerstörten nicht nur das historische Stadtzentrum, sondern auch 60 Prozent aller Kameraproduktionsstätten. Hunderte Facharbeiter starben. Siegfried Böhm, damals Kamera-Konstrukteur bei Zeiss Ikon, fand seinen Arbeitsplatz dem Erdboden gleichgemacht vor; alle Unterlagen waren vernichtet.

Wiederaufbau aus Schutt und Asche
Nach der Besetzung durch die Rote Armee im Mai 1945 folgte der zweite Schock: Die Betriebe wurden unter sowjetische Verwaltung gestellt und demontiert. Maschinen und Anlagen im Wert von 40 Millionen Reichsmark gingen als Reparationen in die Sowjetunion – ein materieller Verlust, der beinahe doppelt so hoch war wie der durch die Bomben. Werkmeister weinten, als ihre Maschinen verpackt und abtransportiert wurden. Es schien das endgültige Ende einer großen Ära.

Doch in Dresden war immer noch ein gebündeltes Fachwissen und handwerkliches Können vorhanden. Mit Ehrgeiz und Erfindungsreichtum wollten die Arbeiter die Produktion wieder an die Weltspitze führen. Die Sowjets forderten plötzlich moderne Fototechnik als Wiedergutmachung, was zur Rückführung einiger Maschinen führte.

Unter schwierigsten Bedingungen – oft hungrig, ohne Heizung und mit Stromausfällen – entwickelte Siegfried Böhm auf Befehl der Sowjets ein Kameramodell, das Geschichte schreiben sollte: die Praktica. Sie war handlich, robust, günstig in hohen Stückzahlen herstellbar und einfach im Aufbau. 1949, im Gründungsjahr der DDR, kam die Praktica auf den Markt. Bis 1990 sollten 10 Millionen dieser Kameras die Dresdner Produktionsstätten verlassen. Profis und Amateure weltweit fotografierten mit ihr, und sogar die Japaner bauten die Ur-Praktica „naturgetreu nach“.

Anfänglich ging fast die gesamte Praktica-Produktion als Reparationsleistung in die Sowjetunion. Von 20.000 Stück pro Jahr blieben lediglich 2.000 für den Inlandsverkauf. Um den sowjetischen Forderungen gerecht zu werden, konzentrierten sich Böhm und seine Mitarbeiter auf die Ausbildung junger Kameraspezialisten. Die Kameraherstellung war Handarbeit auf Hundertstel- und Tausendstel-Millimeter-Niveau, ein Apparat bestand aus „500 bis 700 Einzelteilen“ und erforderte 900 Arbeitsgänge.

Pentacon: Ein Name entsteht
Ab 1951, nach Leistung aller Reparationen, konnte die Weiterentwicklung der Spiegelreflexkameras vorangetrieben werden. Die DDR-Regierung drängte darauf, Prakticas zu produzieren, um Westgeld in die Staatskasse zu spülen. Die Erzeugnisse des VEB Pentacon wurden auf der Kölner Photokina gefeiert, und der Dresdner Betrieb trug dazu bei, den Welthöchststand in der Kameratechnik nicht nur zu halten, sondern mitzubestimmen.

Trotz des Erfolgs gab es große Probleme: Das geteilte Deutschland führte zur Abwanderung qualifizierter Mitarbeiter in den Westen, was „gewaltige Auswirkungen“ auf die Konstruktion und Technologie hatte. Markenrechtsprozesse mit westlichen Unternehmen verschlangen Zeit und Geld. Daher wurde der VEB Zeiss Ikon 1958 in VEB Kinowerke Dresden umbenannt und ein neuer, phonetisch internationaler Name patentiert: Pentacon. Am 1. Januar 1964 wurden auf staatlichen Beschluss die vielen Einzelbetriebe unter dem Namen VEB Pentacon gebündelt, und der Ernemannturm wurde zum gemeinsamen Logo.

Die Kameraindustrie boomte in der Nachkriegszeit, und die Nachfrage nach den preiswerten, robusten Kameras aus Sachsen überstieg schnell das Angebot. Pentacon tätigte in den 50er und 60er Jahren die größten Umsätze in den USA, Westdeutschland, Großbritannien und Australien. Merkwürdige Kompensationsgeschäfte des Staates führten jedoch dazu, dass Kameras wie die Contax gegen Südfrüchte getauscht und weit unter Wert verkauft wurden, was die internationale Absetzbarkeit zerstörte und zur Produktionseinstellung der Contax führte.

Innovationen und Herausforderungen
In den 1960er Jahren entwickelte sich Pentacon zu einem der führenden Exportbetriebe der Republik. Um die Produktion von 40.000 auf 100.000 Kameras pro Jahr zu steigern und mehr Devisen zu erwirtschaften, wurde erstmals in einem sozialistischen Großbetrieb die Fließbandmontage eingeführt, inspiriert von Japan. Dies galt anfangs als „unsozialistisch“ und „kapitalistisch“, doch vor allem Frauen, die für ihre Fingerfertigkeit bekannt waren, sorgten für hohe Produktionszahlen. Täglich verließen 400 Prakticas das Werk, alle 72 Sekunden eine Nova. Besucher aus aller Welt, darunter Amerikaner, Engländer, Franzosen und Japaner, bewunderten das „erste Kameraband Europas“.

Trotz betriebswirtschaftlicher „Katastrophen“ durch Sozial- und Kulturausgaben von 10 Millionen Mark jährlich bot Pentacon seinen 9.000 Mitarbeitern ein breites Spektrum an kostenlosen Angeboten wie Tanzgruppen, Orchester, Sportgemeinschaften und eine Bibliothek. Dies verbesserte das Arbeitsklima erheblich.

Technologisch war Pentacon der Konkurrenz oft einen Schritt voraus. 1970 stellte das Werk weltweit zum ersten Mal Deckkappen aus Plastik her, ein kompliziertes Verfahren, das später internationaler Standard wurde. Japaner besuchten das Werk, um sich die neuesten Entwicklungen anzusehen und waren beeindruckt von den „Meisterleistungen“ der Dresdner Ingenieure.

Die Praktica blieb bis zum Ende der DDR ein Verkaufsschlager, selbst im Weltraum. 1978 fotografierte Sigmund Jähn als erster deutscher Kosmonaut im All mit einer Praktica EE2 und einer Pentacon Six – beide „aus Dresden von Pentacon“.

Der Niedergang: Mangel und verpasste Chancen
Ab Ende der 1970er Jahre machten sich jedoch die Probleme der DDR-Wirtschaft auch bei Pentacon bemerkbar. Der Staat genehmigte keine neuen Investitionen. Fertigungsstätten waren über ganz Dresden verstreut und veraltet. Warenlieferungen kamen nicht oder zu spät, und die Qualität der Zulieferer ließ nach – sogar russischer Edelstahl rostete. Dies führte zu Pannen, wie dem Bruch eines Hebels bei einer Kamera während einer Vorstellung, was den Fotografen Franz Zschäck in Verlegenheit brachte.

Der größte Einbruch kam mit dem Einzug der Mikroelektronik in die Kameratechnik. Der Minister sah die Notwendigkeit des Imports nicht ein und verhinderte die Entwicklung in diesem Bereich. Dies war „der Anfang vom Ende“, da jeder Schaltkreis selbst entwickelt werden musste, während Japan bereits spezialisierte Werke für Elektronik und Verschlussfertigung hatte.

Um das Werk rentabel zu halten, verstrickte sich Pentacon ab 1983 in ein geheimes Rüstungsprogramm des Warschauer Pakts, das 260 Millionen Mark einbrachte. Mitarbeiter wurden aus der Kameraproduktion abgezogen und in den Neubau für ein Panzerabwehrsystem verlegt.

Am 2. Oktober 1990 kam die schockierende Nachricht: „Pentacon Dresden werde stillgelegt“. Umfassende Recherchen der Treuhandanstalt hatten ergeben, dass der Kameraproduzent „nicht überlebensfähig“ sei. Die Bemühungen, mit japanischen Partnern zusammenzuarbeiten, scheiterten, da diese die veralteten Produktionsstätten sahen und ablehnten. Pentacon hatte den „Aufbruch ins digitale Zeitalter verpasst“.

Im Juni 1991 wurde die gesamte Ausrüstung des Werkes versteigert. Mitarbeiter wie Dieter Bockard erlebten, wie Maschinen, in die so viel Mühe und Erfindungsreichtum gesteckt worden war, „für ein Appel und Ei weggingen“ oder auf dem Müll landeten. Mitte der 1990er Jahre wurden viele Produktionsstätten abgerissen, oft als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, bei der ehemalige Mitarbeiter die eigenen Arbeitsplätze demontieren mussten. „Traurig war es im Grunde schon, dass die die Fotoindustrie in in in Deutschland dann damit eigentlich völlig beerdigt worden war“, so ein Zeitzeuge.

Der Name Pentacon existiert noch heute, stellt aber keine Spiegelreflexkameras mehr her. Dennoch hat die Marke Praktica in Europa immer noch einen klangvollen Namen, und Sammler sowie Praktica-Clubs in Holland und England halten die Erinnerung an Dresdens einst ruhmreiche Kameraindustrie wach.

Die geheimen Volvo-Ambulanzen für Honecker und Co.

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Während der Alltag in der Deutschen Demokratischen Republik oft von Mangelwirtschaft geprägt war, gab es eine kleine, aber feine Ausnahme für die oberste Führungsebene: Der Fuhrpark der DDR-Regierung umfasste eine exklusive Flotte von etwa fünf Volvo 265 Ambulanzen. Diese Spezialfahrzeuge, die dem Regierungskrankenhaus Berlin-Buch zugeordnet waren, dienten einem ganz besonderen Zweck: dem schnellen und komfortablen Transport hochrangiger Minister oder sogar Erich Honeckers selbst im Falle einer Erkrankung.

Schnelligkeit vor heimischer Produktion
Ab 1978 begann die Beschaffung dieser hochdachigen Kombi-Umbauten als Ambulanzen. Der Grund für die Wahl des schwedischen Fabrikats war pragmatisch und entlarvend zugleich: Heimische Fahrzeuge wie der Barkas B 1000, der sonst als Krankentransportwagen diente, konnten dem Tempo des Regierungskonvois schlichtweg nicht folgen. Die Begleitfahrzeuge rasten teilweise mit 130 bis 140 km/h über die Autobahn, eine Geschwindigkeit, die ein Barkas nicht halten konnte. Die Volvos hingegen waren darauf ausgelegt, auf längeren Strecken dem Konvoi stets zu folgen.

Ein bemerkenswertes Detail, das auf die Besonderheit dieser Fahrzeuge hinweist: Ursprünglich waren die Motorhauben mattschwarz lackiert. Dies sollte verhindern, dass sich das Blaulicht vom Dach im Dunkeln zu stark spiegelte und den Fahrer irritierte.

Komfort und Technik für den Ernstfall
Der Blick ins Innere der Volvo-Ambulanzen offenbarte eine Ausstattung, die für damalige Verhältnisse als sehr hochwertig galt. Das Cockpit entsprach dem typischen Volvo 260/264, verfügte über ein Automatikgetriebe und sogar eine Doppel-Klimaanlage, die auch den medizinischen Bereich versorgte. Eine kleine Leselampe und die Bedienung der Signalanlage, Lautsprecher und Beleuchtung rundeten den Fahrerbereich ab.
Der medizinische Bereich war ebenso durchdacht ausgestattet: Ein Notsitz für Rettungssanitäter, ein klappbarer Sitz für den Notarzt, eine Trage, Schränke für medizinisches Material, eine Dachluke sowie separate Heizung und Beleuchtung waren vorhanden. Auch Schubkästen für diverses Kleinmaterial und eine Klapptür, hinter der eine Nottrage untergebracht war, zeugten von der umfassenden Ausstattung.

Unter der Haube arbeitete ein Euro V6-Motor mit 156 PS, der dem schweren Spezialumbau die nötige Kraft verlieh, um mit der Geschwindigkeit des Konvois mithalten zu können.

Ein imposanter Anblick
Ausgestattet mit großen Bosch-Blaulichtern waren diese Volvo-Ambulanzen eine beeindruckende Erscheinung, wenn sie im Einsatz waren. Zeitzeugen erinnern sich daran, wie solche Krankenwagen Teil des Konvois waren, der beispielsweise zur Leipziger Messe vorfuhr.

Die Existenz und Ausstattung dieser speziellen Volvo-Ambulanzen, wie sie vom YouTube-Kanal „GENEX“ in einem Video über eine dieser Raritäten vorgestellt wurden, gibt einen seltenen Einblick in die logistischen und medizinischen Vorkehrungen, die für die Elite der DDR getroffen wurden – ein krasser Gegensatz zur Versorgung der breiten Bevölkerung.

Berlin schwitzt: Neue Studie deckt Hitze-Hotspots auf – Stadt bekommt „gelbe Karte“

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Berlin – Der Sommer in der Hauptstadt wird zunehmend zur Belastungsprobe. Während Verena Fehlenberg, Referentin für Stadtnaturschutz, am Alexanderplatz steht, läuft es ihr „trotz sommerlicher Temperaturen eiskalt den Rücken runter“. Der Grund: Der Alex ist ein Paradebeispiel für Berlins Hitze-Hotspots – eine Fläche, die „jede Fläche versiegelt ist“ und wo „eigentlich nur Beton, Stahl und Glas“ dominieren. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) beschäftigt sich seit Jahren mit den Auswirkungen extremer Hitze auf Städte und hat nun mit dem neuen „Hitzecheck“ konkrete Daten zur Lage in Berlin präsentiert.

Berlin erhält eine „gelbe Karte“
Im Rahmen der Studie wurde erstmals für alle Berliner Bezirke ein „Hitzebetroffenheitsindex“ (HBI) berechnet. Dieser Wert steigt, je heißer, dichter und versiegelter ein Kiez ist. Das Ergebnis ist eine ernüchternde Einschätzung für die Millionenmetropole: „Berlin bekommt von uns insgesamt eine gelbe Karte“, so die DUH. Obwohl die Stadt für eine Metropole noch viele Grünanteile aufweise, gehe es nun darum, „dafür zu sorgen, dass nicht noch mehr Grün aus der Stadt verschwindet“, denn Grünflächen sind entscheidend für die Abkühlung.

Die Hitze-Spitzenreiter der Hauptstadt
Die Studie offenbart die Bezirke mit der höchsten Hitzebelastung:

• Platz 1: Friedrichshain-Kreuzberg. Rund 61 % der Fläche sind hier versiegelt, und die Oberflächentemperatur erreicht im Sommer durchschnittlich bis zu 37°C.

• Platz 2: Mitte. Dieser Bezirk ist zwar weniger stark versiegelt als Friedrichshain-Kreuzberg, weist aber eine höhere durchschnittliche Oberflächentemperatur auf.

• Platz 3: Charlottenburg-Wilmersdorf. Knapp die Hälfte der Flächen sind versiegelt, bei durchschnittlich rund 36°C Oberflächentemperatur.
Die DUH warnt eindringlich: Extreme Hitze sei ein „ernstzunehmendes Gesundheitsrisiko für alle Berlinerinnen und Berliner“.

Forderungen nach mehr Stadtgrün und politischem Willen
Als Konsequenz fordert die Deutsche Umwelthilfe „mehr Stadtgrün, vor allem in den Hotspots“. Verena Fehlenberg betont, dass das Pflanzen von Bäumen „keine Rocket Science“ sei, es aber „den politischen Willen und das Budget“ brauche.

Auch kurzfristige Maßnahmen wären denkbar: „Alleine wenn man sich jetzt hier diesen Platz anguckt, gibt es unheimlich große Flächen, die man sofort entsiegeln könnte“, schlägt Fehlenberg vor. Langfristig müsse Berlin dem Grundsatz „Keine neue Versiegelung ohne Ausgleich“ folgen. Dies bedeutet: Wenn irgendwo zugebaut wird, müsse an anderer Stelle im gleichen Maße entsiegelt werden – ein Prinzip von „Eins zu eins“.

Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung verweist bei konkreten Maßnahmen auf die Bezirke, wo die Hauptverantwortung liege. Gleichwohl arbeite der Senat an einem landesweiten Hitzeaktionsplan mit verschiedenen Ansätzen. Es bleibt abzuwarten, wie schnell die politischen Versprechen in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden, um Berlin hitzeresilienter zu machen.

Vogtland im Wandel – Eine Region zwischen Aufbruch und ungelösten Fragen

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Dreißig Jahre nach der friedlichen Revolution und dem Fall der Berliner Mauer blickt das Vogtland auf eine bewegte Transformationsgeschichte zurück. Was einst eine geteilte Nation war, steht heute vor der Frage, ob die Mauern in den Köpfen der Menschen überwunden sind und ob die Entwicklung die gewünschte Freiheit und Demokratie gebracht hat. Die anfängliche Euphorie einer besseren Zukunft hat sich in vielen Köpfen einer allgemeinen Unzufriedenheit und dem Gefühl der Benachteiligung als Ostdeutsche gewandelt.

Die DDR-Vergangenheit: Ein System der Angst und Unterdrückung Das DDR-Regime war ein System der Unterdrückung und Angst. Über 40 Jahre lang waren die Bürger der DDR regelrecht eingemauert. Die innerdeutsche Grenze, die das Vogtland auf fast 1400 Kilometern durchzog, war ein Symbol dieses nach innen geschlossenen Systems. Sie bestand aus Minenfeldern, Selbstschussanlagen und einem drei Meter hohen Streckmetallzaun; wer sie überwinden wollte, riskierte sein Leben, und Hunderte wurden dabei getötet. Schon der Gedanke, die DDR zu verlassen, wurde vom SED-Regime nicht toleriert. Die Staatssicherheit (Stasi) beschäftigte allein in Plauen etwa 700 offizielle und inoffizielle Mitarbeiter, was zu einer tief verwurzelten Angst vor Verfolgung und Repressalien führte. Dieses „Angstsystem“ wurde von Beginn an etabliert und garantierte die lange Existenz der Diktatur.

Gleichzeitig verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage der DDR in den 1980er Jahren drastisch; der totale Bankrott schien nur eine Frage der Zeit. Die Textilindustrie im Vogtland, einst ein großes Zentrum und Versorger des gesamten östlichen Wirtschaftsraums, litt unter veralteten Produktionsmethoden und ständigem Mangel. Die steigende Abwanderung von Fachkräften und die schlechter werdende Versorgungslage waren weitere Probleme.

Der Ruf nach Freiheit und Einheit Im Herbst 1989 entlud sich der über 40 Jahre aufgestaute Unmut. In Plauen gingen am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, erstmals Tausende Menschen auf die Straße. Dies war ein historischer Moment: Ohne erkennbare Führung bildete sich ein Demonstrationszug mit mindestens 15.000 Menschen. Sie forderten Reisefreiheit, und vor allem Frieden. Dank der Vermittlung von Superintendent Thomas Küttler, der zwischen Demonstranten und Staatsmacht agierte, blieb die Situation friedlich. Die Staatsmacht lenkte ein und signalisierte Gesprächsbereitschaft.

Der Wunsch nach der deutschen Einheit wurde im Vogtland besonders früh und vehement geäußert. „Deutschland einig Vaterland“ war die zentrale Forderung auf den Demos. Die Menschen wollten so schnell wie möglich Westgeld und die deutsche Einheit, ohne Experimente. Die Euphorie auf ein besseres Leben überwog.

Die Herausforderungen der Transformation Die Wiedervereinigung brachte jedoch auch gewaltige Probleme mit sich. Die Währungsunion, die am 30. Juni 1990 stattfand, hatte zur Folge, dass alles, was bis dahin in den Läden war, über Nacht „verschleudert“ wurde, und die Geschäfte sich plötzlich leer anfühlten. Die DDR-Wirtschaft musste sich 1990 völlig neu ausrichten. Die Angst um den eigenen Arbeitsplatz breitete sich aus, da einstmalige Industriehochburgen abgebaut und liquidiert wurden. Im Vogtland hinterließ der Einbruch der Textilindustrie tiefe Narben, was zu Industrieruinen und hohen Arbeitslosenzahlen führte. Viele Menschen im Vogtland haben seit der Wende nicht mehr gearbeitet, und ganze Generationen sind in Familien aufgewachsen, in denen es keine Arbeit gab.

Viele Ostdeutsche fühlen sich bis heute nicht ausreichend anerkannt. Die These, dass die Politik keine „wirkliche Ostkompetenz“ entwickelt habe und Probleme weggemoderiert wurden, indem man einfach Geld in den Osten schickte, wird geäußert. Professorin Ines Geipel stellt sogar Thesen auf, die einen Zusammenhang zwischen der rechten Szene und der DDR-Vergangenheit herstellen, da die Aufarbeitung der doppelten Diktaturgeschichte nicht ausreichend stattgefunden hat. Sie warnt davor, dass der Osten sich erneut zum „politischen Opfer“ machen lässt und „sehenden Auges in den totalen Einschluss“ läuft. Eine vernebelnde „Ostalgie“ könnte die Sicht auf das wirklich Quälende verleugnen.

Fortschritte und unerwartete Entwicklungen Trotz der Schwierigkeiten gab es im Vogtland auch Erfolgsgeschichten und massive Veränderungen. Die Infrastruktur der Region hat sich enorm verbessert. Es gab einen Sanierungsboom, bei dem Tausende Wohnungen instand gesetzt wurden. Persönlichkeiten wie die Familie Ihring haben sich durch den Kauf und die Sanierung denkmalgeschützter Objekte um den Erhalt wertvoller Bausubstanz verdient gemacht.

Auch wirtschaftlich gab es Lichtblicke:

• Die Plauener Spitze überlebte den Umbruch und zählt bis heute zu den „Top-Modellen der DDR“, auch wenn hohe Investitionsbedarfe bleiben.
• Das Plauener Sternquell Bier entwickelte sich zu einer der ersten erfolgreichen Geschäftsbeziehungen zwischen Ost und West.
• Die Entwicklung des NEOPLAN Omnibus Werks in Plauen wird als eine der Erfolgsgeschichten im Vogtland nach der Übernahme durch die Familie Auwärter genannt.
• Die Region kann auch mit Superlativen aufwarten, wie der Entstehung der modernsten Skisprunganlage Europas in Klingenthal, die die Menschen mit Stolz erfüllt.

Der Blick nach vorn: Mauern in den Köpfen einreißen Drei Jahrzehnte nach dem Umbruch ist der Transformationsprozess noch nicht abgeschlossen und wird sich voraussichtlich noch hinziehen. Die Erinnerung an den real existierenden Sozialismus verwischt, und viele, die das System erlebt haben, sehen heute oft nur noch das vermeintlich Gute daran. Dies birgt die Gefahr der Geschichtsklitterung und entfernt die Gesellschaft von den Werten, für die 1989 gekämpft wurde: Freiheit und Demokratie.

Es ist von entscheidender Bedeutung, sich weiterhin für die Demokratie zu engagieren, denn „Demokratie ist kein Selbstläufer“. Es geht darum, die tiefsitzenden Mauern in uns selbst niederzureißen und das Land als Ganzes zu sehen. Das riesige Glückskapital, das durch die friedliche Revolution gewonnen wurde, darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Es ist eine ernsthafte Aufgabe, zu verhindern, dass die Gesellschaft in eine neue Diktatur abrutscht. Die junge Generation wird wohl kaum noch Probleme mit dieser Erkenntnis haben.

Freie Meinung im Osten? Eine ostdeutsche Perspektive auf die Wiedervereinigung

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Die Debatte um die deutsche Wiedervereinigung und die Erfahrungen der Ostdeutschen bleibt auch Jahrzehnte später ein emotionales und oft polarisierendes Thema. Wilhelm Domke-Schulz ist eine Stimme, die diese Polarisierung exemplarisch aufzeigt: Seine Äußerungen werden von einigen als mutige Offenheit gefeiert („endlich sagt’s mal einer“), während andere darin „Hass auf den Westen“ erkennen. Seine Perspektive bietet einen unverblümten Einblick in die Sichtweise eines „Ossis“ auf die Nachwendezeit und die Geschichte Deutschlands.

Der Groll auf den Westen und die Dominanz der westdeutschen Erzählung
Domke-Schulz äußert sich deutlich ablehnend gegenüber dem Westen, er findet „nicht so viel, was ich leiden könnte“. Selbst landschaftliche Schönheit wie Weinregionen im Westen wird nur unter dem Vorbehalt erwähnt, dass der Wein nichts dafür kann, dort zu wachsen. Ein zentraler Kritikpunkt ist für ihn die vorherrschende Geschichtsdarstellung: Diese sei „immer eine Westdeutsche“.

Die Friedensbewegung im Osten: Staatliche Lenkung versus kirchlicher Widerstand
Entgegen mancher vereinfachter Darstellung betont Domke-Schulz die Existenz und Vielfalt der Friedensbewegung in der DDR, insbesondere zur Zeit der Stationierung amerikanischer Raketen. Er unterscheidet hierbei klar zwischen zwei Strömungen:

• Staatlich gelenkte Aktionen: Die FDJ organisierte „große Aktionen“ wie „Single Clubs“, Gitarrenkonzerte und die Verbreitung von Aufklebern mit durchgestrichenen Raketen, die sich gegen den NATO-Doppelraketenbeschluss richteten. Diese Bewegung war „Anti-NATO USA“ orientiert und sah die USA als Aggressor, dessen Raketen „uns und unsere Freunde und in der Sowjetunion bedrohen“. Dieser Haltung lag auch die Erinnerung an den Vietnamkrieg zugrunde.

• Unabhängige kirchliche Bewegung: Parallel dazu entwickelte sich eine Bewegung unter dem Begriff „Schwerter zu Pflugscharen“, die von Wittenberg ausging und über die Kirche, insbesondere durch Friedrich Schorlemmer, getragen wurde. Diese Antikriegs- und Abrüstungsbewegung war nicht staatlich gelenkt und gefördert, sondern entstand unabhängig und wurde durch symbolische Akte, wie das Umschmieden eines Schwertes zu einem Pflug im Schlosshof von Wittenberg, bekannt.

Der 3. Oktober: Ein Tag der Ablehnung und Enttäuschung
Für Wilhelm Domke-Schulz ist der 3. Oktober, der Tag der Deutschen Einheit, ein Tag, den er meidet. Er kann die von ihm beschriebene Peinlichkeit nachvollziehen, die auch Westdeutsche empfinden, wenn Politiker versuchen, den Ostdeutschen „Dankbarkeit abzuringen“. Für ihn selbst stellt sich die Frage nach dem Grund für diese Dankbarkeit: „Wofür soll ich da jetzt bitte dankbar sein?“. Er listet eine Reihe von Missständen auf, die für ihn eng mit der Wiedervereinigung verbunden sind:

• Arbeitslosigkeit.
• Wirtschaftsvernichtung.
• Nichtanerkennung von Berufsabschlüssen.
• Nichtzulassung zu Führungspositionen.

Besonders kritisch äußert er sich über die Ankunft sogenannter „Westbesatzer“ im Osten. Nach seiner Wahrnehmung waren dies oft Personen, von denen der Westen „froh war, dass er die Typen los war“. Wenn diese dann „freudestrahlend“ auf ihn zukämen und ihm gratulierten: „Endlich kannst du frei deine Meinung äußern“, empfindet er dies als Ironie und zynischen Hohn. Für Domke-Schulz war die Wiedervereinigung ein Prozess, der seit 1952 vorbereitet wurde, um seine Heimat „zu plündern bis auf den letzten Besenstiel“.

Veranstaltungen zum 3. Oktober, bei denen ein „Beutewessi“ als Veranstalter und Redner auftritt und andere Westdeutsche in Führungspositionen sich selbst beweiräuchern, während die anwesenden „Ossis“ nur klatschen sollen, sind für ihn kein Anlass zur Freude oder zum Feiern. Seine Aussagen spiegeln eine tiefe Enttäuschung und das Gefühl wider, dass die Wiedervereinigung für viele Ostdeutsche mit gravierenden Verlusten und mangelnder Anerkennung einherging.

Das Schicksal der Kathrin Begoin-Weber in der DDR-Jugendhilfe

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Saalfeld/Gera/Eilenburg/Torgau. Kathrin Begoin-Weber, 1968 in Saalfeld, Thüringen, geboren, wuchs behütet als Einzelkind auf, bis ihr Leben in der 8. Klasse eine dramatische Wendung nahm. Sie fühlte sich zu einer Gruppierung junger Erwachsener hingezogen, die sich unter anderem durch das Hören von in der DDR unerwünschter Musik von Bob Dylan oder Janis Joplin auszeichneten. Dort fand sie einen Ort, an dem sie ihre Gedanken und Wünsche zur Veränderung frei äußern konnte, anders als in der angepassten Gesellschaft, in der sie nicht zu allem „Amen“ sagen wollte.

Diese Gruppierung, in der sich auch Jugendliche mit Ausreiseanträgen oder geringen Haftstrafen befanden, bereitete Kathrins Eltern große Sorgen. In naiver Gutgläubigkeit wandten sich ihre Eltern an die Jugendhilfe, in der Annahme, dort Ratschläge zu erhalten, um ihre Tochter wieder mit Gleichaltrigen zusammenzubringen und von der Clique wegzuholen. Doch in dem Moment, als sie diese Frage stellten, entzog die Jugendhilfe den Eltern sofort jegliche Erziehungsmacht, entgegen deren Willen.

Das Durchgangsheim Gera: Der erste Schock
Kathrin wurde zur sogenannten Abschreckung in ein Durchgangsheim nach Gera eingewiesen, zunächst für drei Wochen. Obwohl sie nie mit der Polizei zu tun gehabt oder etwas angestellt hatte, brach für sie eine Welt zusammen. Sie kannte Zellentüren nur aus schlechten DDR-Krimis. Bei ihrer Ankunft riss ihr ein Erzieher, der ihr neuer Betreuer wurde, gewaltsam einen „Schwer dazu Fluchschaden“-Aufnäher von ihrer Jeansweste und eine Kreuzkette ihrer verstorbenen Großmutter ab. Eine Tätowierung an ihrem Unterarm wurde ihr zudem gegen ihren Willen mit einer Wurzelbürste abgeschrubbt, bis es blutete, da der Erzieher glaubte, sie sei lediglich aufgeschmiert. Die Zelle ähnelte dem Begrüßungsarrest in Torgau, ausgestattet mit einem Eimer für die Notdurft, einem Hocker und einem Bretterbett, ohne Fenster. Kathrin weinte hemmungslos und klammerte sich an den Gedanken, dass ihre Eltern sie retten würden.

Fehlschichten und die Einweisung in den Jugendwerkhof
Nach drei Wochen kam Kathrin zwar nach Hause, wurde aber von der Schule genommen und ihr wurde eine Lehrstelle als Hilfslagerarbeiterin zugewiesen, nicht die von ihr gewünschte. Sie hoffte, nach ihrem 18. Geburtstag die Jugendhilfe loszuwerden. Doch zwei „Fehler“ besiegelten ihr weiteres Schicksal: einmal nicht vom Wochenend-Konzert zurückgetrampt, was zu einer Fehlschicht führte, und einmal zwei Stunden zu spät zur Arbeit gekommen. Diese „Verbrechen“ wurden der Jugendhilfe, die eng mit Schulen und Ausbildungsbetrieben zusammenarbeitete, als willkommener Anlass präsentiert, um festzustellen: „Funktioniert mit der nicht“.

Gegen den Willen ihrer Eltern erfolgte die Einweisung in einen Jugendwerkhof. Kathrin wurde erneut ins Durchgangsheim Gera gebracht, für weitere dreieinhalb Wochen, bis ein Platz frei wurde. Es war Praxis, Kinder und Jugendliche weit weg von zu Hause unterzubringen, um alte Freundschaftskontakte zu unterbinden. Kathrin wurde in den Jugendwerkhof Eilenburg verlegt. Dort erwartete sie eine harte Realität: Sie sollte als Küchenhilfe, Putzfrau oder Hilfsanlagenfahrerin im Getränkewerk Eilenburg arbeiten.

Jugendwerkhof Eilenburg: Zwangsarbeit und Isolation
Im Getränkewerk Eilenburg hatte Kathrin mit anderen Jugendwerkhof-Mädchen eine eigene Halle, ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt oder zu den anderen Angestellten. Sie wurden wie „der letzte Dreck“ behandelt. Die Arbeit war körperlich schwer und musste auf Normen wie bei Erwachsenen geleistet werden, obwohl sie noch Kinder waren. Die Entlohnung für dieses Zwei-Schicht-System war minimal: Wer funktionierte und „Ja-Sager“ war, konnte sich Kleidung leisten. Wer jedoch als „Querulant“ oder „Entweicher“ galt, erhielt lediglich Zahnpasta, Unterwäsche und Seife. Kathrin bezeichnete dies als Zwangsarbeit und Kinderarbeit, bei der die Heime an den inhaftierten Kindern verdienten.

Ihre Eltern besuchten sie jedes Wochenende von Saalfeld nach Eilenburg, um sie für eine Stunde sehen zu dürfen. Diese Besuche waren für Kathrin wie ein „Halt, Energie und Kraft“. Doch die Heimleitung reduzierte die Besuchszeiten drastisch auf alle drei bis vier Monate. Dies führte zu Kathrins „Entweichungen“ – insgesamt 17 Fluchtversuche während ihrer Zeit im Werkhof. Als Entweicher trug man blaue Latzhosen, hatte keinen Ausweis und kein Geld, war also auf das Trampen angewiesen. Wurde man von einem ABV (Abschnittsbevollmächtigter, eine Art Hilfspolizist) aufgegriffen, begann die Prozedur durch verschiedene Durchgangsheime erneut, bis man in der Stammeinrichtung ankam.

Ein Hauch von Freiheit und die Drohung Torgau
Einmal gelang es Kathrin, an einem Freitag nach Hause zu kommen. Sie bat ihre Eltern, für sie zu lügen und vorzugeben, sie sei schwanger, um drei Tage offiziell zu Hause bleiben zu können. Der Werkhof stimmte überraschend zu. Diese drei Tage waren die einzigen offiziellen Tage, die sie in ihrer gesamten Werkhofunterbringung zu Hause sein durfte. Es war ein Gefühl der kleinen Freiheit, den „Verfolgungswahn abzulegen“ und selbst entscheiden zu können, wann und was sie essen wollte.

Doch die Rückkehr war ein Schock. Obwohl sie nicht schwanger war – Gott sei Dank, wie sie selbst sagt –, fand sie später in ihrer Akte einen Brief des Direktors von Eilenburg an den Direktor von Torgau, in dem von einer möglichen Schwangerschaft die Rede war und dass sofort eine Abtreibung stattfinden würde. Dieses Recht nahm sich die damalige Jugendhilfe heraus.

Torgau: Das Brechen der Persönlichkeit
Kathrin wurde nach Torgau gebracht, ein Name, der bei den Mädchen im Jugendwerkhof Angst auslöste. Mädchen, die nach Torgau gingen, kamen mit langen Haaren und leuchtenden Augen an, aber kehrten mit kurzem Haarschnitt und einem „sturen Blick“ zurück – sie waren nicht mehr dieselben. Kathrin verbrachte fast vier Monate, von Januar bis Mai 1985, in Torgau und musste dort ihren 17. Geburtstag erleben. Ihre Eltern durften sie dort einmal im Monat für eine Stunde besuchen, doch gab es einen langen Tisch, an dem sie saß, während die Eltern ihr gegenüber saßen und Angestellte mitschrieben. Körperkontakt war verboten, und sie durfte nichts über die Einrichtung oder ihre Erlebnisse erzählen, um den Besuch nicht zu verlieren.

Torgau war eine Einrichtung, um dich zu brechen, dich gefügig zu machen, in jeder Hinsicht, und dich zu einem „Ja-Sager“ heranzuziehen, damit du nur noch funktionierst. Selbstständiges Denken und Handeln waren unerwünscht.

Die Narben der Vergangenheit
Anderthalb bis zwei Wochen vor ihrem 18. Lebensjahr wurde Kathrin als „Unverbesserliche“ (UVB) aus dem Jugendwerkhof Hummelzein entlassen. Sie war nicht mehr das Mädchen, das gegangen war. Sie war geprägt, wie viele andere auch, und viele wurden gebrochen. Das System zielte darauf ab, Kinder und Jugendliche zu „Ja-Sagern“ und „funktionierenden Maschinen“ umzuerziehen, ihren Willen zu brechen. Kathrin funktionierte danach 14,5 Jahre. Erst im höheren Alter begann sie eine Ausbildung und reflektiert über die verlorene Zeit und die Entwicklungsphase, die ihr und anderen genommen wurde.

Es sei ein Teil von jedem Betroffenen, der sich nicht aufarbeiten lässt. Das Einzige, was man tun kann, ist, „einen Frieden zu suchen, einen Weg zu finden, damit zu leben“. Viele schweigen noch heute und sind daran zerbrochen. Kathrin betont: „Warst nicht schuld daran. Egal, was man dir anjagt.“

Die Flucht und Rückkehr der DDR-Olympiaträume

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Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) war bekannt für ihren Spitzensport und die Erfolge, die ihre Athleten auf internationaler Bühne feierten. Doch hinter den Medaillen und dem Jubel verbarg sich oft eine Realität aus Zwang, politischem Druck und der ständigen Überwachung durch die Staatssicherheit. Rund 600 Spitzensportler kehrten der DDR zwischen 1949 und 1989 den Rücken. Die Geschichten von Karin Balzer, Axel Mitbauer und Klaus Tuchscherer geben einen Einblick in die individuellen Schicksale jener, die ihren Traum von Freiheit über den Sport stellten oder unfreiwillig ins System zurückgedrängt wurden.

Karin Balzer: Olympiasieg nach erzwungener Rückkehr
Karin Balzer, eine der erfolgreichsten Sportlerinnen der ehemaligen DDR, war Mitte der 50er Jahre ein großes Talent. Mit 19 Jahren schaffte sie den Sprung in die Nationalmannschaft und reiste für Wettkämpfe in den Westen, darunter Hamburg, Saarbrücken und sogar privat nach West-Berlin, um einzukaufen. Im Sommer 1958 erfuhr ihr Leben jedoch eine jähe Wendung: Sie sollte gegen ihren Willen für den SC Dynamo Berlin starten. Mit gerade 20 Jahren fasste sie spontan den Entschluss, in den Westen zu gehen, traf sich mit ihrem Trainer und späteren Ehemann in West-Berlin und flog von dort nach Frankfurt.

Doch die Republikflucht endete nicht in dauerhafter Sicherheit. Die DDR-Sportführung und die Staatssicherheit wollten die große Olympiahoffnung nicht ziehen lassen. Karin Balzers Vater wurde von der Stasi gezwungen, das Paar zur Rückkehr zu bewegen. Sie lehnten dies zunächst ab, doch der massive Druck auf ihre Familie – der Bruder verlor seine Lehrstelle, die Eltern fanden keine Ruhe mehr – führte schließlich zur erzwungenen Rückkehr. Karin Balzer wurde in Leipzig untergebracht, erhielt ein einjähriges Startverbot und musste sich „bewähren“.

Diese Erfahrung formte sie zu einer selbstständigen Athletin. Anfang der 60er Jahre wurde sie die Nummer 1 im Hürdensprint der DDR. 1961, als die Berliner Mauer gebaut wurde, befand sie sich mit dem Leichtathletikteam im kapitalistischen Ausland. Bei den Olympischen Spielen 1964 in Tokio feierte Karin Balzer ihren größten Erfolg: Sie holte über 80 Meter Hürden die Goldmedaille, die letzte für ein gesamtdeutsches Team. Im Osten wurde ihr Triumph als erster Olympiasieg für die DDR-Leichtathletik dargestellt, während ihre Flucht und Rückkehr verschwiegen wurden. Sie lernte, „niemals zu zeigen, was wirklich im Innersten vorgeht“ und lebte mit einer „gewissen Maske“, da sie die Staatssicherheit „im Nacken“ hatte. Ihre Popularität nutzte sie 1966, um von den Lesern der Tageszeitung „Junge Welt“ zur Sportlerin des Jahres gewählt zu werden und forderte erfolgreich eine bessere Wohnung: „Ich biete meine Goldmedaille gegen eine Wohnung“.

Nach ihrer Karriere weigerte sie sich 1976, ihren Athleten Dopingmittel zu verabreichen, was zu einem Berufsverbot im Leistungssport führte. Nach der Wende arbeitete sie als Dozentin für Sozialpädagogik und Trainerin. Sie bereute ihre spätere Entscheidung, in der DDR geblieben zu sein, nicht, da sie dort aufgewachsen war und eine „Ostmentalität“ angenommen hatte.

Axel Mitbauer: Der Fluchtschwimmer
Axel Mitbauer, Jahrgang 1950 aus Leipzig, wurde im Sommer 1958 als Schwimmtalent entdeckt. Er wuchs ohne Vater auf und fand im Schwimmen sein Zuhause. Schon mit 12 Jahren gehörte der Kraul-Spezialist zum erweiterten Kader der Nationalmannschaft. Sein Traum war ebenfalls Olympiasieger zu werden. Er trainierte besessen, täglich dreimal, und wollte immer weiterschwimmen. Doch seine Erlebnisse im System schufen Distanz: Der Mauerbau 1961 beendete die regelmäßigen Verwandtenbesuche im Westen, und sein Traum von Olympia 1964 wurde zunichte gemacht, weil ein älterer, schwächerer Schwimmer ihm vorgezogen wurde. Er wollte raus, um seinen Sport frei und ohne politischen Druck ausüben zu können.

Als DDR-Meister über 400 Meter Freistil qualifizierte sich Mitbauer für die Olympischen Spiele 1968 in Mexiko. Doch sein Olympiatraum platzte erneut: Er wurde auf offener Straße verhaftet und in die Stasi-Zentrale in Berlin-Hohenschönhausen verschleppt, wo er sieben Wochen in Einzelhaft verbrachte. Seine Fluchtgedanken waren durch Briefe entdeckt worden, die bei der Einreise westdeutscher Schwimmer gefunden wurden. Obwohl ihm die geplante Republikflucht nicht bewiesen werden konnte, wurde er wegen verbotener Kontaktaufnahme mit dem „Klassenfeind“ bestraft: Er erhielt ein lebenslanges Startverbot. „Da war dann eigentlich mein mein Leben in der DDR zerstört“, so Mitbauer.
Nach seiner Entlassung beschäftigte ihn nur noch eine Frage: Wie konnte er das Land verlassen? Zufällig hörte er auf einer Geburtstagsfeier, dass man von der Ostseeküste das andere Ufer sehen konnte. Er beschloss, durch die Ostsee zu schwimmen – eine lebensgefährliche Idee. Beim Blick in den Atlas schätzte er die Distanz auf 20 km. Am Abend des 17. August 1969 wartete Axel Mitbauer in Boltenhagen auf seine Chance. Er hatte Grenzsoldaten und -anlagen beobachtet und wusste, dass der Suchscheinwerfer jeden Abend um 21 Uhr für genau eine Minute ausging.

Bekleidet mit Badehose, Schwimmflossen und viel Vaseline als Schutz vor der Kälte begann sein stundenlanger Kampf gegen die 18 Grad kalte Ostsee. Er nutzte verschiedene Schwimmtechniken, sprach mit sich selbst und orientierte sich an den Sternen, um das Ziel im Auge zu behalten. Nach rund 22 Kilometern rettete er sich aus Angst vor Unterkühlung auf eine Boje und wurde am nächsten Morgen von einem Fährschiff aufgenommen. Axel Mitbauer ging als „der Fluchtschwimmer“ in die deutsch-deutsche Geschichte ein.

Im Westen setzte er seine Karriere als Leistungssportler fort, konnte aber nicht an die Erfolge im Osten anknüpfen. Eine Verletzung verhinderte zum dritten Mal seine Olympiateilnahme für München 1972. Er bereute seine Flucht nie: „Ich war geboren um dreimal bei denen Olympischen Spiel nicht teilnehmen zu können aber den größten Wettkampf meines Lebens zu gewinnen nämlich von einem totalen System in ein freiheitliches System wechseln zu können“. Später arbeitete er als Schwimmtrainer.

Klaus Tuchscherer: Die Medaille des Systems verwehrt
Klaus Tuchscherer, geboren 1955, war von klein auf vom Wintersport, besonders dem Skispringen, fasziniert. Seine Anlagen blieben nicht unbemerkt, und er kam auf die Sportschule. Ohne das System kritisch zu betrachten, wuchs er in das Fördersystem des DDR-Leistungssports hinein, das von Fleiß und Disziplin geprägt war und kaum Freiräume ließ. Obwohl er sich dem sportlichen Drill unterwarf, fühlte er sich im „Räderwerk der Medaillenmacher“ nicht besonders wohl. Er hatte viele Fragen, traute sich aber nicht, sie zu stellen. Für ihn war es wichtig, mit Personen auf Augenhöhe zu kommunizieren, und er empfand es als Problem, dass ihm in diesem System „Selbstbestimmung“ oder „geistige Freiheit“ genommen wurden.

1976 hatte sich Klaus Tuchscherer bis zu den Olympischen Winterspielen in Innsbruck an die nationale Spitze der Nordisch Kombinierten herangekämpft. Er lag nach dem Skispringen auf Medaillenkurs, auf Platz 3. Doch die DDR-Mannschaftsleitung ordnete ihn überraschend in die schlechteste, die erste Startgruppe für den 15-km-Langlauf ein. Er traute sich nicht zu fragen, warum. Als Läufer mit Startnummer 1 wusste er, dass er ohne Chance war, seinen guten Platz zu verteidigen, da die Loipe mit jedem Läufer schneller wurde. Am Ende wurde er Fünfter und fühlte sich um seine Medaille betrogen.

Der Entschluss, in Österreich zu bleiben, kam in den nächsten Stunden „ganz entschlossen“. Er hatte seine Flucht eine Woche lang geplant und wollte den Trubel beim Springen von der Großschanze nutzen, um sich von seiner österreichischen Freundin per Taxi vom Mannschaftshotel abholen zu lassen. Der Plan ging auf. Zwei Tage später spürte ihn die Staatssicherheit auf und versuchte, ihn zur Rückkehr zu bewegen. Die DDR-Führung zwang seinen Vater, ihn telefonisch zur Rückkehr aufzufordern. Doch nach seiner Flucht musste die DDR beweisen, dass sie Menschenrechte einräumte, da sie sechs Monate zuvor die Schlussakte von Helsinki unterzeichnet hatte. Tuchscherer wurde vor die Wahl gestellt: entweder zurückkehren oder offiziell nach Österreich ausreisen. Er entschied sich für die Ausreise.

Klaus Tuchscherer lebt seit über 30 Jahren in Innsbruck, startete nach seiner Flucht für die Nationalmannschaft Österreichs und ist heute als Sozialarbeiter tätig. Er bereute seine Flucht nie: „Wenn die Situation nochmals von mir stehen würde würde ich bis auf Kleinigkeiten wür genau wieder so machen wie ich es gemacht habe“.

Die Geschichten von Karin Balzer, Axel Mitbauer und Klaus Tuchscherer sind eindringliche Beispiele dafür, wie das rigide System des DDR-Leistungssports talentierte Menschen bis an ihre Grenzen trieb und sie zu außergewöhnlichen Schritten bewegte, um persönliche Freiheit und Selbstbestimmung zu erlangen.

Die dramatische Flucht des DDR-Spitzenschwimmers Axel Mitbauer

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In einer Zeit, in der die Grenzen der DDR scheinbar undurchdringlich waren, wagte ein Mann den unvorstellbaren Schritt in die Freiheit. Axel Mitbauer, einst ein gefeierter Spitzenschwimmer der Deutschen Demokratischen Republik, blickt heute auf eine dramatische Entscheidung zurück, die er selbst als „Der Wettkampf meines Lebens“ bezeichnet. Seine Geschichte ist ein eindringliches Zeugnis von persönlichem Mut und dem unbezwingbaren Willen, die eigene Würde zu bewahren.

Mitbauer schildert die tiefgreifenden Gründe, die ihn zu dieser verzweifelten Tat trieben. Das DDR-Regime hatte ihm nicht nur seine vielversprechende sportliche Karriere genommen, sondern auch seine gesamte Zukunft in der Heimat. Doch inmitten dieser Verluste gab es etwas, das ihm nicht genommen werden konnte: seine Ehre. Es war diese unverletzliche Ehre, die ihm unmissverständlich die Richtung wies und sagte: „ich muss weg“. Dieser innere Antrieb war so mächtig, dass er heute im Rückblick selbst sagt: „ich hätte es nicht gemacht ich hätte den Mut nicht gehabt“. Dies verdeutlicht das immense Ausmaß der Verzweiflung und Entschlossenheit, die ihn damals beseelten.

Die Flucht selbst war ein Akt von ungeheurer physischer und psychischer Belastung. Axel Mitbauer beschreibt sie prägnant: „ich schwimme von Boltenhagen bis zum Österreutschen Ufer“. Diese Strecke durch die kalten Gewässer war nicht nur ein körperlicher Marathon, sondern eine symbolische Durchbrechung der Grenzen eines Systems, das seine Individualität und seine Zukunft zu unterdrücken versuchte. Es war ein direkter Widerstand gegen die ihm zugefügten Ungerechtigkeiten, bei dem er alles auf eine Karte setzte.

Selbst Jahre später lassen die Erinnerungen an diesen „Wettkampf“ Mitbauer nicht los. Seine Stimme, so erzählt er, wird brüchig, wenn er darüber spricht: „das sind Dinge die mich nach wie vor sehr bewegen und es verschlecht mir dann halt die Stimme“. Diese tiefe emotionale Resonanz unterstreicht die immensen Strapazen und die Bedeutung, die diese Flucht für sein Leben hatte und immer noch hat. Es zeigt, wie tiefgreifend die Erfahrungen in einem totalitären Staat das persönliche Schicksal prägen können und welch bleibende Spuren der Kampf um Freiheit hinterlässt.

Axel Mitbauers Geschichte ist weit mehr als die simple Erzählung einer gelungenen Flucht. Sie ist ein bewegendes Plädoyer für die persönliche Stärke und den unbedingten Drang nach Freiheit, angetrieben durch eine Ehre, die sich nicht verbiegen ließ. Sie erinnert uns daran, dass der Wert der Freiheit oft erst dann vollständig erkannt wird, wenn man bereit ist, alles dafür aufs Spiel zu setzen.

Elke Thomas: Eine Wende-Geschichte der Resilienz und Selbstfindung in Riesa

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Riesa – Die Deutsche Wiedervereinigung, oft liebevoll als „Wende“ bezeichnet, war für viele Menschen in Ostdeutschland eine Zeit des Umbruchs, der Hoffnung, aber auch der tiefgreifenden Herausforderungen. Eine dieser Geschichten ist die von Elke Thomas, geboren 1960 und seit 43 Jahren verheiratet, deren persönliche „Wendegeschichte“ 1982 begann und ein beeindruckendes Beispiel für Anpassungsfähigkeit und Selbstbehauptung liefert.

Aufstieg und jähes Ende einer DDR-Karriere
Elke Thomas startete ihre berufliche Laufbahn in der DDR mit einer Ausbildung zur Vorarbeiterin für Postverkehr. Nach Tätigkeiten im Lottowesen und am Schalter wurde sie für die Verwaltung berufen, ein Schritt, der im Rahmen damaliger Frauenförderungspläne erfolgte. Als junge Mutter zweier Kinder wurde sie ermutigt, ein Hochschulstudium zu beginnen. Trotz der Herausforderungen durch die Familie, die ebenfalls stark involviert war, nahm sie die Möglichkeit mit Freude an, da sie schon immer gerne gelernt hatte.

Sie studierte an der Hochschule für Verkehrswesen „Friedrich List“ in Dresden und schloss 1987 als Diplomingenieurin für Post- und Fernmeldewesen ab. Ein Kind während des Studiums zu bekommen, stellte kein Problem dar, da man die Studienzeiten verlängern konnte. Ihr Sohn wurde im Oktober 1987 geboren, und ihr Mann übernahm ab Februar 1988 für ein Jahr das „Mütterjahr“, während Elke Thomas ein halbes Jahr zu Hause war. Ihr Ziel war es, nach dem Abschluss ordentlich zu arbeiten und Geld zu verdienen, ohne durch familiäre Verpflichtungen ausgebremst zu werden.

Doch mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung änderte sich alles drastisch. Ab 1989 erlebte Elke Thomas eine Einarbeitung in eine neue Position, die sie rückblickend als „gesetzlosen Zustand“ beschreibt, in dem jeder versuchte, sein Bestes zu geben. Die Post in Riesa wurde mit Meißen zusammengelegt, und das Fernmeldeamt ausgelagert. Für Elke Thomas und andere folgte der Schock: Ihnen wurde direkt gesagt, dass sie nicht gebraucht würden und ihr „roten Sockenstudium“ – eine abfällige Bezeichnung für die DDR-Hochschulbildung – nicht anerkannt werde.

Die Diplome der DDR-Absolventen wurden pauschal aberkannt. Viele, die 1994 ein Schreiben zur Weiterbeschäftigung erhielten, hatten von 1991 bis 1994 keine praktische Erfahrung sammeln können, da ihre Arbeitsplätze anderweitig besetzt wurden. Elke Thomas wurde lediglich angeboten, als Hilfskraft am Schalter zu arbeiten, nicht als Facharbeiterin. Die Arbeitszeiten kollidierten mit der Kinderbetreuung, und die verkürzte Arbeitszeit von sechs Stunden bedeutete so wenig Gehalt, dass sie spöttisch meinte, sie müsse „Geld mitbringen auf Arbeit“. Diese Zeit war für sie nervenaufreibend und kräftezehrend.

Der lange Weg der Neuorientierung
Aus Naivität und dem damaligen Verständnis, dass eine Kündigung etwas Schreckliches sei, unterzeichnete Elke Thomas einen Aufhebungsvertrag. Was sie damals nicht verstand: Sie verlor damit ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld. Beim Arbeitsamt wurde sie dann als Steuerfachgehilfin umgeschult. Doch sie musste feststellen, dass sie nicht der Typ für den Verkauf von Versicherungen war.

In ihrer verzweifelten Suche nach einer Arbeit, die mit ihrer Familie vereinbar war, stellte sie beim Arbeitsamt die Frage, ob sie nach mehreren Umschulungen und der inzwischen wiedererkannten Anerkennung ihres Diploms nicht endlich eine passende Stelle finden könne. Die Antwort einer Mitarbeiterin traf sie tief: „Ach Frau Thomas, vergessen Sie doch einfach mal ihren akademischen Grad und gucken doch mal ob sie was anderes finden.“ Dieses Erlebnis bezeichnet sie bis heute als „dramatisches Erlebnis“, das ihr Vertrauen in die Hilfe des Arbeitsamtes zerrüttete. Eine weitere geplante praktische Ausbildung scheiterte an den hohen Kosten.

Neuanfang in der Selbstständigkeit und als Beraterin
Unterstützt von ihren Eltern, die ihr finanziell zur Seite standen, beschloss Elke Thomas, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Im Jahr 2001 machte sie sich selbstständig als Gesundheitsberaterin für Rücken, Füße und Gelenke. Sie empfindet große Freude darüber, vielen Menschen geholfen zu haben, insbesondere solchen, die wieder schlafen konnten.

Das Hochwasser von 2002 in Riesa führte zu einem Einbruch ihrer Geschäfte, da viele Einwohner mit den Flutfolgen beschäftigt waren, was sie dazu zwang, Hartz IV zu beantragen. Auch hier erlebte sie erneuten Druck und herabwürdigende Äußerungen vom Arbeitsamt.

Um 2003 erholte sich die Lage wieder, und Elke Thomas absolvierte eine weitere Ausbildung, diesmal zur psychologischen Beraterin. Sie befasst sich nun mit tiefgründigen Themen und hilft Menschen im Gespräch, bietet Unterstützung an und kann zwischen Behandlungen Zeit für Beratungen nutzen. Zusätzlich engagiert sie sich ehrenamtlich für den Weißen Ring, wo sie Menschen unterstützt, die Opfer von Straftaten geworden sind.

Ein Ratschlag für die junge Generation
Aus all diesen turbulenten Erfahrungen zieht Elke Thomas eine wichtige Lehre, die sie jungen Menschen mit auf den Weg geben möchte. Sie reflektiert die Naivität ihrer eigenen Generation in der Wendezeit und die unbekannten Mechanismen des Kapitalismus. Ihr Rat ist klar: „geht ein Schritt zurück, beratet euch noch mit anderen Leuten die das vielleicht wissen aber nie sofort das machen was andere sagen.“ Sie ermutigt dazu, selbst zu denken und zu überlegen: „das was du gelernt hast das was du siehst das was du fühlst deckt sich das mit dem was dir gesagt wird.“

Elke Thomas‘ Geschichte ist ein Zeugnis dafür, wie man sich auch unter schwierigsten Bedingungen immer wieder neu erfinden und einen sinnvollen Platz in der Gesellschaft finden kann, indem man auf das eigene Wissen und die eigene Intuition vertraut.

Sachsens Sport in der Krise: Haushaltskürzungen bedrohen gesellschaftliches Fundament

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Dresden/Leipzig. Der organisierte Sport in Sachsen, eine tragende Säule der Gesellschaft, steht vor einer Zerreißprobe. Mit 726.000 Sportlern in über 4.300 Vereinen und rund 96.500 ehrenamtlichen Helfern bildet er ein beeindruckendes Netzwerk im Freistaat. Doch die angekündigten Haushaltskürzungen stellen diese bewährte Struktur nun massiv auf die Probe und könnten weitreichende Folgen haben.

Sport als Investition statt Mangelverwaltung
Karsten Günther, Vorstand von Teamsportsachsen, betont die dringende Notwendigkeit, den Wert des Sports für Sachsen endlich zu erkennen und politisch zu unterstützen. Die aktuelle Situation wird als „gefühlte Mangelverwaltung“ beschrieben, bei der vieles über das Ehrenamt kompensiert wird. Die Frage ist, wie lange dieses Modell noch aufrechterhalten werden kann. Teamsportsachsen bündelt deshalb Interessen und priorisiert Forderungen an die Politik, um eine zielgerichtete Unterstützung zu ermöglichen.

Günther unterstreicht, dass Sport als Investition in die Zukunft des Landes gesehen werden sollte. Er verweist auf konkrete Beispiele für den wirtschaftlichen Impact, den Sport haben kann: Eine internationale Eishockey-Akademie in Weißwasser könnte die Region positiv beeinflussen und verändern, und die Veranstaltungen in Hohenstein-Ernstthal (vermutlich die Motorrad-Rennstrecke Sachsenring) bringen einen immensen wirtschaftlichen Nutzen für eine strukturschwache Region. Die benötigten Mittel, um solche Leuchttürme am Laufen zu halten, werden als „absoluter Witz“ im Vergleich zum Nutzen bezeichnet. Wenn solche Projekte wegfallen, verschwindet Sachsen von der internationalen Sportbildfläche.

Herausforderung: Kinder und Jugendliche für den Sport begeistern
Ein weiteres drängendes Problem ist der Rückgang von Kindern und Jugendlichen im Sport, insbesondere seit der Corona-Pandemie. Steffen Herold, Vorstandsmitglied von Teamsportsachsen EV, erklärt, wie schwierig es ist, junge Sportler nach einer Pause wieder ins Training zu holen und langfristig zu motivieren. Während früher Verbände in Kindergärten nach Talenten suchten und viele Kinder quasi „zwangsweise“ in Vereinen landeten, fehlt heute oft der notwendige Rückhalt. Die Realität zeige, dass viele Familien – sei es aus sprachlichen oder sozioökonomischen Gründen – diesen Support nicht leisten können. Dabei vereint Sport Kinder, unabhängig vom sozioökonomischen Hintergrund der Familie, einfach durch die Freude an der Bewegung.

Gefährliche Diskussion um Mittelkürzungen
Die Debatte über die Priorisierung von Geldern im Sport und die Forderung, Mittel gezielt in bestimmte Sportarten fließen zu lassen, wird von Christian Dams, Hauptgeschäftsführer des Landessportbundes Sachsen EV, kritisch gesehen. Er warnt davor, „Sportarten den Hahn zuzudrehen“. Als Beispiele nennt er die Frauen-Skispringerinnen oder den deutschen Basketballbund. Hätte man dort vor einigen Jahren die Förderung eingestellt, wären die heutigen Erfolge wie Weltmeistertitel und Olympiasiege vielleicht nie zustande gekommen. Dams fragt provokant, wer sich hinstellen und sagen würde, dass man erfolgreichen Handball in Leipzig oder Volleyball nicht mehr fördert.

Besonders betroffen wären gewachsene Strukturen in den Regionen. Im Eishockey allein gibt es in Sachsen über 40.000 Lizenzinhaber. Die Diskussion im Landtag über die Notwendigkeit von Bildungsfreistellung – die es Ehrenamtlichen ermöglicht, ihre alle zwei Jahre notwendigen Lizenzen zu verlängern – ist dabei entscheidend, um die Erfolge wieder zu den Kindern und Erwachsenen bringen zu können. Eine Streichung etablierter Sportarten würde gewachsene Strukturen über Jahrzehnte hinweg zerstören.

Die einzigartige Kraft des Sports
Über die rein sportlichen Erfolge hinaus hat der Sport eine tiefgreifende gesellschaftliche Bedeutung. Sportler und ihre Persönlichkeiten können einen positiven Einfluss auf viele andere Bereiche ausüben. Ein beeindruckendes Beispiel hierfür ist, wenn ein Mannschaftskapitän oder Olympiasieger zum Baumpflanzen aufruft. So standen beispielsweise Spieler, Trainer und Fans von rivalisierenden Fußballmannschaften – von Sachsen-Derby-Gegnern wie dem CFC und der Chemie – kurz vor dem Derby zusammen im Wald und pflanzten Bäume, anstatt aufeinander loszugehen. Dies zeige die „brutale Kraft des Sports“ und welche Botschaften gesendet werden können, um Nachhaltiges wachsen zu lassen.

Die angekündigten Haushaltskürzungen stellen den organisierten Sport in Sachsen vor große Herausforderungen. Es wird deutlich, dass es nicht nur um die Freude am Sport geht, sondern um eine Investition in die Zukunft des Landes, die Stärkung des Ehrenamts und den Erhalt wichtiger gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Impulse.