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Schwerin ringt um Lenin-Statue – Letztes Denkmal im früheren Ostblock

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Im Schweriner Stadtteil Großer Dresch an der Hamburger Allee steht seit 1985 eine 3,50 Meter hohe Bronzestatue Wladimir Iljitsch Lenins. Fast vier Jahrzehnte nach ihrer Enthüllung bestimmt sie erneut die Debatte über Erinnerungskultur und Umgang mit DDR-Vergangenheit.

Seit 1989 unaufhörlicher Widerstand
Der CDU-Stadtvertreter Georg‑Christian Riedel hat sich bereits kurz nach dem Fall der Mauer dem Kampf gegen das Denkmal verschrieben. Bei einem Termin vor Ort am 26. März 2025 erklärte Riedel: „Na, der hat hier nichts zu suchen. Lenin war Diktator, verantwortlich für Millionen Tote.“ Riedel beruft sich nicht nur auf Lenins Rolle als Wegbereiter stalinistischer Gewalt und theoretische Vorlage für späteren Staatsterrorismus – er verweist auch auf ganz persönliche Erfahrungen seiner Familie mit Repression und Enteignung in der Sowjetzone.

Seine Großeltern besaßen in der Nähe von Grimmen einst 15 Hektar Ackerland, „und wurden dann ruckzuck enteignet – ohne jede Entschädigung“, berichtet Riedel. Auch seine Eltern seien nach 1945 politischem Druck ausgesetzt gewesen. „Andersdenkende wurden verfolgt, zum Teil mit dem Leben bedroht“, erinnert er an die Atmosphäre jener Jahre.

Schmale Mehrheit bremst Abriss-Bestrebungen
Trotz wiederholter Abstimmungen im Schweriner Stadtparlament blieb die Statue bislang unangetastet. Gleich nach der Wiedervereinigung gab es erste Vorstöße, die dann aber an den Mehrheitsverhältnissen scheiterten. Eine Einigung führte 1990 zur Anbringung einer Informationstafel, die jedoch nach kurzer Zeit wieder verschwand – bis Riedel 2018 durchsetzte, dass sie erneut angebracht wurde. Für ihn ist der aktuelle Text „nicht deutlich genug“, um auf Lenins Verantwortung für Enteignung und politisches Unrecht hinzuweisen.

Befürworter des Denkmals sehen genau hierin den Wert: Als „Zeitzeugnis der DDR-Geschichte“ regt die Statue ihrer Ansicht nach zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit an. Eine klare Mehrheit im Stadtrat für den Abriss konnte Riedel bislang jedoch nicht gewinnen.

Protestaktion 2014 und öffentliche Resonanz
Ein besonders sichtbares Signal setzten Kritiker 2014, als der Kopf der Statue symbolisch verhüllt wurde. Der Initiator, Alexander Bauersfeld – einst politischer Gefangener in der DDR – wollte damit an die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft erinnern. Die Aktion löste breite Debatten in lokalen Medien aus, hatte aber keinen dauerhaften Effekt auf die politische Mehrheit.

Letztes Lenin-Denkmal im früheren Ostblock
Das Schweriner Lenin-Denkmal ist heute das einzige seiner Art in einer ehemals sowjetisch beeinflussten Region Deutschlands. Während in Polen, Tschechien oder Ungarn in den frühen 1990er Jahren zahlreiche Lenin-Statuen weichen mussten, entschied sich Schwerin für den Erhalt. Die Kontroverse zeigt, wie unterschiedlich die Regionen mit ihrer sozialistischen Vergangenheit umgehen.

Museum statt Sockel?
Georg‑Christian Riedel spricht sich dafür aus, die Statue vom Sockel zu nehmen und wenn überhaupt in ein Museum zu überführen: „Die massive Bronze gehört ins Museum – mit Erläuterungen, die deutlich machen, was hier gefeiert wird und was nicht.“ Ein aktueller Antrag im Stadtrat zur Prüfung einer solchen Lösung soll in den kommenden Monaten diskutiert werden. Ob er diesmal eine Mehrheit findet, bleibt offen – die Debatte in Schwerin ist jedenfalls noch lange nicht beendet.

Hauswirtschaftspflege in der DDR – Abgeordnete werben für Personal

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Im Jahr 1985 engagierten sich in der Deutschen Demokratischen Republik rund 78.000 ehrenamtliche Hauswirtschaftspflegende, um älteren Bürgerinnen und Bürgern den Verbleib in ihren vertrauten vier Wänden zu ermöglichen. Auf Initiative des Zentralausschusses der Volkssolidarität sollte diese Zahl bereits ein Jahr später auf 80.280 steigen. Ein exemplarischer Blick nach Halle‑Süd zeigt, wie Betriebe und Volksvertreterinnen gemeinsam um Unterstützung werben – und welche Schicksale hinter den nüchternen Statistiken stehen.

Betriebliches Engagement: Zwischen Schichtende und Nachbarschaft
Im VEB Technische Gebäudeausrüstung Halle gehört das Werben um Freiwillige längst zum Alltag. Frauenkommissionen und der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) obliegt es, geeignete Kolleginnen anzusprechen. Einer von ihnen ist die 24‑jährige Forst Sklarek. Zweimal wöchentlich – nach Feierabend – fährt sie zu ihrer 86‑jährigen Rentnerin, um dort Fenster zu putzen, zu wischen und Einkäufe zu erledigen. „Ich mache das mit Liebe“, erzählt die Seniorin Frau Eschke, „nicht bloß die Arbeit, sondern mit einer großen Liebe.“

Auch Auszubildende übernehmen Verantwortung: Die knapp 18‑jährige Anke betreut seit zwei Jahren die durch einen Schlaganfall pflegebedürftige Frau Ferber. „Ich sehe in der Disco nicht meine Lebenserfüllung“, sagt Anke. „Ich finde, was Sinn hat, muss ich tun.“ Zwei- bis dreimal in der Woche hilft sie beim Abwasch, Staubwischen oder Maniküren – und gewinnt dadurch mehr als nur Erfahrungen für den Lebenslauf.

Durch diese betriebliche Rekrutierungsmethode konnten in Halle‑Süd bereits 39 Hauswirtschaftspflegende gewonnen werden, die vornehmlich die eigenen Rentner betreuen. Die enge Zusammenarbeit zwischen Frauenkommission, BGL und den einzelnen Brigaden schafft einen direkten Draht zu jenen älteren Bürgern, die auf Hilfe warten.

Parlamentarischer Weg: Die Abgeordneten als Türöffner
Parallel wirkte in Halle‑Süd eine zweite Mobilisierungsstrategie: Abgeordnete der Volksvertretung besuchten Bürgerinnen in ihrem Wahlkreis und warben um Unterstützung. Im Klub der Volkssolidarität auf der Silberhöhe erläuterte Abgeordnete Bia Krause: „Wir sprechen direkt die Frauen an, die wir hier in der Nachbarschaft kennen.“ Von 73 eingegangenen Anträgen aus Halle‑Süd konnten auf diesem Wege bislang 14 vollständig betreut werden. Krause räumt ein, dass dies erst der Anfang sei: „Die familiären Bindungen – Enkel, Ehepartner – müssen mitbedacht werden. Aber langfristig hilft jede einzelne Betreuerin, die älteren Menschen in Würde leben zu lassen.“

Einzelschicksal Erich Flehmig
Ein besonders eindrückliches Beispiel ist der 86‑jährige Erich Flehmig (Jahrgang 1899). Bis zum Alter von 77 arbeitete er in seinem Beruf, heute bezieht er kleine Rentenleistungen. Er erledigt noch den Einkauf und das Abstauben selbst, doch Fensterputzen und Kohlenholen werden zur körperlichen Überlastung. „Kohlen raufholen ist nicht so einfach“, sagt er. Entschieden hat sich sein Antrag auf Hauswirtschaftspflege bisher nicht – er gehört zu den 73 Rentnern in Halle‑Süd, die noch auf Hilfe warten.

Zwischen Solidarität und Herausforderung
Die Beispiele aus Halle‑Süd illustrieren den doppelten Anspruch der DDR-Sozialpolitik: Zum einen die Betonung gegenseitiger Verantwortung, zum anderen die Grenzen ehrenamtlicher Hilfe. Betriebe mobilisieren ihre Belegschaft, Abgeordnete wirken als soziale Lotsinnen, während die Volkssolidarität koordiniert und Anträge bearbeitet. Doch ohne ausreichende Fangnetze aus professioneller Pflege stößt das System an seine Grenzen: Nicht jede Rentnerin oder jeder Rentner findet sofort eine passende Helferin.

Der Beschluss, 1986 knapp 2.300 zusätzliche Hauswirtschaftspflegende zu gewinnen, signalisiert, dass die DDR-Führung den Wert der freiwilligen Altenbetreuung hoch einschätzt. Doch die tatsächliche Umsetzung hängt weiter von der Bereitschaft Einzelner ab – von engagierten Frauen wie Forst Sklarek und Anke bis zu den Abgeordneten, die im Wahlkreis werben. Wie nachhaltig dieser Ansatz ist, wird sich in den kommenden Jahren zeigen, wenn der demografische Wandel älterer Menschen in der Gesellschaft weiter voranschreitet.

Dass gerade junge Freiwillige und gewerkschaftlich organisierte Frauenkommissionen als Rückgrat dienen, spricht jedoch für ein starkes gesellschaftliches Engagement – ganz im Sinne der sozialistischen Solidarität.

Ende eines DDR-Monuments – Als Lenin in Berlin geköpft wurde

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Am frühen Morgen des 8. November 1991 rückten Bagger und Arbeitstrupps an, um das 19 Meter hohe Lenindenkmal auf dem einstigen Leninplatz in Ost‑Berlin zu demontieren. 20 Jahre lang hatte die überlebensgroße Porträtbüste Wladimir Iljitsch Lenin – geschaffen vom sowjetischen Bildhauer Nikolai Tomski – als zentrales Symbol des sozialistischen Städtebaus über dem neu angelegten Platz im Bezirk Friedrichshain thront. Mehr als 200 Granitblöcke aus der Ukraine formten den massiven Koloss, der 1970 anlässlich von Lenins 100. Geburtstag feierlich enthüllt worden war.

Bereits in den Wochen nach dem Mauerfall 1989 wuchs die Debatte um den Verbleib des Denkmals. Anwohner und Kunstschützer klagten, es rechtfertige eindeutig-politische Propaganda; andere empfanden es als historisch wertvollen Zeitzeuge der DDR-Ära. Trotz Petition und Mahnwachen fiel der Beschluss des Berliner Senats, das Relikt sowjetischer Monumentalarchitektur abzuräumen – ein symbolischer Schritt zur Umbenennung des Platzes in „Platz der Vereinten Nationen“.

Der Abbau erwies sich als technische Herausforderung: Die tonnenschweren Granitblöcke waren in ein massiv bewehrtes Betonfundament eingelassen. Mehr als zwei Wochen dauerte es, bis die Figur in Transport-Container verladen und fortgebracht war. Die großen Fragmente landeten im Köpenicker Forst, wo sie zunächst verscharrt wurden – ein Akt, den manche als „Vergraben der eigenen Vergangenheit“ deuteten.

Erst 2015 förderte ein Kunstprojekt einzelne Brocken wieder zutage: Heute sind einige Fragmente im Berliner Spreepark ausgestellt und erinnern an die Ambivalenz der Wiedervereinigung – zwischen Aufbruch und Vergessen, zwischen Respekt vor der Geschichte und dem Willen, sich von ideologischen Lasten zu lösen.

Mehr als drei Jahrzehnte nach ihrem Entfernen wirft die Geschichte des Lenindenkmals bis heute Fragen auf: Wie soll eine Gesellschaft mit monumentalen Symbolen umgehen? Wann sind sie Mahnmal, wann Makel? Die Fragmente des einstigen Kolosses stehen heute stellvertretend für das fortwährende Ringen um Erinnerung und Identität in einer Stadt, die sich permanent neu erfindet.

Mit Volldampf unter Fahrdraht: Elektrifizierung erreicht Rügen

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Mukran, 1989. Nachdem die Deutsche Reichsbahn in den vergangenen Jahrzehnten mit Diesel- und Dampflokomotiven die Ostseeinsel Rügen erschlossen hatte, rollt seit heute erstmals eine Elektro-Lok unter dem neuen Fahrdraht in den Hafen Mukran ein. Mit der Inbetriebnahme der 67 Kilometer langen Strecke von Stralsund über Saßnitz und Binz bis nach Mukran ist nun die gesamte Hauptverbindung von Bad Schandau in Sachsen bis in den äußersten Nordosten der DDR elektrifiziert.

Festakt am Bahnsteig
Am Vormittag begrüßten der erste Sekretär der SED-Bezirksleitung, Ernst Thimm, und weitere Repräsentanten der Staatspartei den Lokführer und die Mannschaft der E-Lok mit Fahnen und einem herzlichen Applaus. In seiner Rede lobte Herbert Keddi, stellvertretender Minister für Verkehrswesen und stellvertretender Generaldirektor der Deutschen Reichsbahn, vor allem die termingerechte Realisierung: „Bislang hat noch kein Inbetriebnahmetermin des Staatsplanes Investitionen in der Streckenelektrifizierung das vorgegebene Datum verfehlt.“

Wirtschaftlicher Nutzen für Häfen und Tourismus
Die Stärke des Projekts liegt nicht nur in der pünktlichen Fertigstellung, sondern vor allem in seinem volkswirtschaftlichen Effekt: Die Häfen Mukran und Saßnitz, die gemeinsam über eine jährliche Umschlagsmenge von rund 8,5 Millionen Tonnen verfügen, profitieren von schnelleren und umweltfreundlicheren Transportkapazitäten. Gleichzeitig verbessert sich die Anbindung der beliebten Ostsee-Badeorte Binz und Göhren, was gerade in der bevorstehenden Sommersaison einen merklichen Zuwachs touristischer Verkehrsströme erwarten lässt.

Jugend und Ideologie als Antrieb
Ein zentrales Element des Ausbaus ist das „Zentrale Jugendobjekt“ der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Mehr als 60 Prozent der Arbeiten – von der Herstellung der Fahrleitungsmasten im Lokomotivbau bis hin zum täglichen Montagebetrieb – wurden durch FDJ-Mitglieder erbracht. Keddi hob hervor, dass diese „fleißigen Mitkämpfer“ nicht nur technische, sondern auch ideologische Voraussetzungen für die Fortschritte geschaffen hätten.

Blick voraus: 2 000 Kilometer „unter Draht“
Schon heute richten die Verantwortlichen den Blick auf das nächste Etappenziel: Bis Ende September, pünktlich zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR, soll der 2 000. Kilometer Schienenstrecke elektrifiziert sein. Besonders Cottbus, als weiterer starker Knotenpunkt, wird dann angeschlossen und die ostdeutsche Hauptstadtregion noch effizienter in das sozialistische Verkehrssystem integriert.

Mit diesem großen Schritt unterstreicht die DDR ihre Anstrengungen, modernste Verkehrstechnik mit staatsplanerischer Präzision zu verbinden – ein Projekt, das wirtschaftliche, technische und ideologische Dimensionen miteinander verknüpft und die mobilitäts­politische Bedeutung der Eisenbahn als Rückgrat des Überseehandels und des massenhaften Personentransports einmal mehr bestätigt.

Zehnfacher Preissprung: Mietexplosion auf der Karl‑Marx‑Allee

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Am 1. Oktober 1991 vollzog sich auf der Karl‑Marx‑Allee in Ost‑Berlin ein radikaler Bruch: Wo Gewerbemieten bislang bei moderaten fünf D‑Mark pro Quadratmeter lagen, wurden ab sofort rund 50 D‑Mark fällig. Die Verkehrsachse, die sich über 2,5 Kilometer von der Frankfurter Allee bis zur Stalinallee (heute: Karl‑Marx‑Allee) erstreckt und sowohl den Bezirk Mitte als auch Friedrichshain durchquert, erwies sich schlagartig als teuerstes Pflaster der Hauptstadt.

Bereits kurz nach der Ankündigung mussten zahlreiche Einzelhändler und Gastronomen ihre Pforten schließen oder in Randlagen ausweichen. Von ehemals 110 Gewerbeeinheiten entlang des denkmalgeschützten Baudenkmals sind mehr als ein Viertel verwaist. Traditionsbetriebe wie die Karl‑Marx‑Buchhandlung prüfen nun, ob sich die rund 1 000 Quadratmeter Ladenfläche wirtschaftlich halten lassen. „Wir untersuchen, ob wir Teile unseres Verkaufsraums abtrennen und anderweitig nutzen können, um die Fixkosten zu senken“, berichtet ein Sprecher des Hauses.

Das Bezirksamt Friedrichshain verspricht Abhilfe: In Kooperation mit der städtischen Wohnungsbaugesellschaft sollen künftig differenzierte Tarife zwischen Verkaufs‑ und Nebenräumen gelten. Reine Ladenlokale werden weiterhin mit bis zu 50 D‑Mark berechnet, während Nebenflächen in die Gesamtmiete eingerechnet und so der durchschnittliche Quadratmeterpreis auf rund 30 D‑Mark gesenkt werden soll. Dennoch bleibt die Frage, ob klassische Nahversorger wie Tante‑Emma‑Läden oder Gemüsehändler langfristig auf der Allee bestehen können. Viele verlagern ihr Angebot bereits auf den Friedrichshainer Wochenmarkt, wo Standflächen für 95 Pfennig pro Quadratmeter und Tag zu haben sind.

Trotz der angespannten Lage herrscht entlang der Prachtstraße indes Gründerzeitstimmung: In den kommenden Wochen bietet das Bezirksamt Beratungen für Neuansiedlungen an und lädt zur Tauschbörse, in der Ladenlokale und leerstehende Wohnungen vermittelt werden. Ob dieser Kraftakt gelingt, hängt vom Mut und Einfallsreichtum der Betreiber ab – und davon, ob die Karl‑Marx‑Allee ihre Stellung als lebendige Geschäftsmeile zurückerobern kann.

Im Schatten der Waffen: Wie die NVA das Alltagsleben der DDR durchdrang

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Die Nationale Volksarmee (NVA) war mehr als eine Militärtruppe – sie durchdrang jeden Bereich des Lebens in der DDR und prägte Generationen von Bürgerinnen und Bürgern. Gegründet 1956 als Antwort auf den NATO-Beitritt der Bundesrepublik, sollte sie offiziell den Frieden sichern. In Wahrheit diente sie auch der Machtsicherung der SED und der Abschottung gegen den „Klassenfeind“.

Schon Kindergartenkinder besuchten Soldaten in der Kaserne, strahlten freudig in Kommandeursmützen – eine frühe Form der Indoktrination. Ab 1978 wurde „Wehrerziehung“ als Schulfach eingeführt: Sportunterricht verwandelte sich in militärischen Mehrkampf, Geschichts- und Geografiestunden waren von vormilitärischer Propaganda durchzogen. Die Gesellschaft für Sport und Technik organisierte Wehrlager mit Hindernisparcours und Wettkämpfen, die Jugendliche auf den Dienst an der Waffe vorbereiten sollten.

Mit 180.000 Mann blieb die NVA in den Achtzigern zwar hinter der Bundeswehr zurück, doch jeder zehnte Erwachsene gehörte einer paramilitärischen Organisation an – sei es die „Freie Deutsche Jugend“ bei Marinelager auf der »Rostock« oder die Reservistengruppe der Gesellschaft für Sport und Technik. Diese Militarisierung war Teil der SED-Ideologie: Die DDR-Führung zeichnete das Bild eines permanent bedrohten Sozialismus, der nur durch ständige Wachsamkeit gerettet werden könne.

Der 9. November 1989 brachte das System ins Wanken – und die Soldaten an den Abgrund. Die Nachricht von „erhöhter Gefechtsbereitschaft“ stürzte viele in eine existentielle Krise: „Die größte Angst war, ich muss meine Maschinenpistole in die Hand nehmen und auf Menschen schießen, die für Freiheit demonstrieren“, erinnert sich ein Offizier. Erst als klar wurde, dass kein Befehl folgen würde, setzte echte Erleichterung ein.

Mit der Wiedervereinigung endete die NVA. Am 3. Oktober 1990 wurden Teilstreitkräfte in die Bundeswehr integriert, Uniformen und Dienstgrade umgestellt. Für viele Offiziere war das ein Bruch mit ihrer Identität. Ein ehemaliger Hauptmann beschreibt, wie seine Tochter in Tränen ausbrach: „Die DDR ist tot und alle freuen sich – aber wenn jemand stirbt, muss man doch weinen.“ Dieses Bild fasst die Ambivalenz des Übergangs zusammen: Befreiung und Verlust zugleich.

Roller für die Republik – Mobilität und Mangelwirtschaft in Ludwigsfelde

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Die Sehnsucht nach individueller Mobilität war in der DDR groß – nicht zuletzt, weil sie selten erfüllt wurde. Ein Symbol für diesen Wunsch auf zwei Rädern war der Motorroller Berlin aus den IWL-Werken in Ludwigsfelde. Zwischen 1959 und 1962 gebaut, galt er als modernes, erschwingliches Fortbewegungsmittel – trotz aller Einschränkungen.

Im Alltag jedoch wurde der Roller oft bis an die Belastungsgrenze genutzt. Eine Familie auf Urlaubsreise: Vorn auf dem Kindersitz das kleinste Kind, der Vater am Steuer, die Mutter auf dem Rücksitz, dazwischen eingeklemmt das größere Kind. Dahinter der Gepäckträger, beladen mit Zelt, Kochtöpfen und Luftmatratzen – so ging es an die Ostsee oder ins Mittelgebirge.

Ein Beiwagen? Der wurde von den Herstellern kategorisch abgelehnt. Sicherheitstechnisch sei die Kombination nie erprobt worden, hieß es. Nur ein Kriegsversehrter mit amputierten Beinen erhielt eine Sonderzulassung für ein selbstgebautes Dreirad – klassifiziert als „Versehrtenfahrzeug“.

Technisch und logistisch war der Rollerbau ein ständiger Balanceakt. Die sogenannte „Störfreimachung“ hatte das Ziel, die Abhängigkeit von westlichen Importen zu verringern. Rahmenrohre etwa kamen ursprünglich aus der Bundesrepublik. Doch die vertragsgemäßen Lieferungen trafen oft erst zum Quartalsende ein. Die Lösung: Ersatz durch Material aus der Sowjetunion – allerdings mit anderen Maßen. Ein Millimeter Unterschied konnte ganze Produktionslinien betreffen.

1959, ausgerechnet im Jahr des zehnjährigen DDR-Kraftfahrzeugjubiläums, wurde Ludwigsfelde vergessen. Der Betrieb war kein Mitglied der zentralen Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) und wurde deshalb offiziell nicht erwähnt – ein Schlag für die stolzen Werktätigen.

Der Motorroller Berlin steht heute für mehr als Mobilität. Er erzählt von Einfallsreichtum und Improvisation, von bürokratischen Absurditäten – und vom Traum von Freiheit auf zwei Rädern.

November 1968 – Grundsteinlegung am Leninplatz mit Walter Ulbricht

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Mitten im sozialistischen Aufbau Ost-Berlins markiert die Grundsteinlegung für den neuen Leninplatz einen zentralen Moment der ideologischen Stadtplanung in der DDR. Am 19. November 1968 versammeln sich hunderte Bürgerinnen und Bürger, um einem symbolträchtigen Akt beizuwohnen. Auf einem weitläufigen, noch unbebauten Areal, das bis dahin unspektakulär zwischen Friedrichshain und Mitte lag, entsteht ein neues Zentrum sozialistischer Repräsentation.

Im Mittelpunkt der Veranstaltung steht Staats- und Parteichef Walter Ulbricht, der persönlich den Grundstein für den Platz legt, auf dem später das monumentale Lenin-Denkmal des sowjetischen Bildhauers Nikolai Tomski stehen wird. Umrahmt wird die Szene von Parteifunktionären, darunter ein auffällig präsenter Erich Honecker, zu diesem Zeitpunkt noch Sekretär des Zentralkomitees, aber längst im Aufstieg begriffen.

Die Bühne ist schlicht, doch voller Symbolik: rote Fahnen, das Konterfei Lenins, große Transparente mit Slogans wie „Die Ideen Lenins leben – unser Weg zum Sozialismus“. Auf der Tribüne versammeln sich Funktionäre der SED, Mitglieder der FDJ und Vertreter der DDR-Betriebe. Die Reden, allen voran Ulbrichts, betonen den internationalen Charakter des Sozialismus und die unerschütterliche Freundschaft zur Sowjetunion. Der Leninplatz soll nicht nur ein architektonisches Projekt sein, sondern ein ideologisches Bekenntnis: zur Geschichtsschreibung im Sinne der Partei, zur urbanen Zukunftsvision einer sozialistischen Hauptstadt.

Die filmischen Aufnahmen zeigen eine Mischung aus Inszenierung und volkstümlicher Beteiligung. Die Menge applaudiert diszipliniert, Kinder tragen Blumen, Arbeiter stehen in Kolonnen. Es ist ein Bild jener Zeit, in der politische Macht in Stein gegossen und der öffentliche Raum zur Bühne des Sozialismus wurde.

Mecklenburg-Vorpommern – Wo das Land leise Geschichten erzählt

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Manche Orte sprechen in großen Worten. Andere flüstern. Vorpommern gehört zu den wenigen Landstrichen, die erzählen, ohne laut zu werden. Zwischen Peenetal und Ostseeküste entfaltet sich eine Landschaft, die mit Stille wirkt. Ihre Sprache ist langsam, ihre Geschichten sind tief – und sie werden am besten dort gehört, wo der Wind durch Schilf und Wälder streicht, wo das Wasser der Bodden glitzert und wo in den alten Gutshäusern noch der Atem vergangener Jahrhunderte spürbar ist.

Diese Region im Nordosten Mecklenburg-Vorpommerns lebt vom Zusammenspiel: von der kraftvollen Weite der Natur und der leisen Würde ihrer Dörfer. Vom Zauber früher Morgenstunden, wenn Nebel über der Peene liegt und das erste Licht die alten Eichen berührt. Von den Stimmen der Fischer auf dem Markt, vom Knistern eines Holzofens in einem Backsteinhaus, vom Knarren der Dielen unter den Füßen.

Die Flusslandschaft der Peene – einer der letzten unverbauten Flüsse Europas – ist mehr als ein Naturraum. Sie ist ein Gedicht, geschrieben in Wasserlinien und Vogelrufen. Hier zeigt sich die Landschaft in ihrem ureigenen Rhythmus. Der Biber hinterlässt seine Spuren, der Seeadler zieht majestätisch über den Himmel, und wer mit dem Kanu auf dem Fluss unterwegs ist, spürt, wie sich die Zeit auflöst – in Gegenwärtigkeit und Staunen.

Am Stettiner Haff, am Greifswalder Bodden, in kleinen Orten wie Lassan, Loitz oder Stolpe wird Geschichte lebendig. Nicht durch große Museen oder Inszenierungen – sondern durch das gelebte Leben selbst. Jedes Mauerwerk erzählt. Jeder Feldstein kennt Geschichten. Es sind keine lauten, dramatischen Erzählungen, sondern Geschichten des Alltags, der Umbrüche, des Bleibens und Weiterziehens.

Die Romantik hat hier nicht nur Spuren hinterlassen, sie ist Teil des Alltagsgefühls. Künstler, Träumer, Reisende finden hier Inspiration – aber auch Menschen, die einfach in Ruhe leben wollen. In Vorpommern ist Stille kein Rückzug, sondern eine Kraft. Sie schärft die Sinne, öffnet das Herz und lädt dazu ein, neu zu sehen, zu hören, zu fühlen.

Wer kommt, bleibt oft länger als gedacht. Und wer geht, nimmt etwas mit: vielleicht ein Gefühl für das Wesentliche, ein Bild vom Sonnenuntergang über dem Wasser, den Klang eines Kranichrufs – oder die Erkenntnis, dass Schönheit manchmal ganz leise spricht.

Im Klassenraum einer POS 1974: Wenn Musik zum Gemeinschaftserlebnis wird

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Ein Blick zurück auf den Musikunterricht der 6. Klasse in der DDR – zwischen strenger Ordnung und leidenschaftlichem Klang

Am Vormittag des Jahres 1974 betreten Kinder im Alter von elf bis zwölf Jahren die Musikstunde ihrer Polytechnischen Oberschule. Die Lehrerin schaltet das Tonbandgerät ein, und eine klare Stimme erklärt: „Das ist ein Sinfonieorchester. Es setzt sich aus verschiedenen Instrumentengruppen zusammen.“ Für die Schülerinnen und Schüler beginnt eine Reise in die Welt der Töne – streng didaktisch gegliedert, aber zugleich getragen von der Faszination, die ein ganzes Orchester entfalten kann.

Bereits in den ersten Minuten des Unterrichts werden die Kinder mit konkreten Fakten vertraut gemacht: Der Kammermeister stimmt die Instrumente auf den Kammerton A, der erste Oboist gibt den Takt an. Dann tritt der Dirigent auf den kleinen Podest, um das Gesamtbild zu vollenden. „Links vom Dirigenten sitzen die ersten Violinen, dahinter die zweiten Violinen. Vor ihm die Bratschen, rechts die Celli und dahinter die Kontrabässe“, heißt es mit klarer Stimme vom Band. Die bis ins letzte Detail festgelegte Sitzordnung spiegelt die Planwirtschaft wider, die damals das gesellschaftliche Leben prägte – selbst in der Kunst zählen Genauigkeit und Funktion.

Doch jenseits der scheinbar strengen Ordnung eröffnet sich schnell eine Welt voller klanglicher Vielfalt und gemeinschaftlicher Dynamik. Im Unterrichtsmitschnitt erklingt Mozart: „Eine kleine Nachtmusik“, das berühmte Menuett, wird den Kindern als Paradebeispiel für Kammermusik vorgestellt. Hier kristallisiert sich heraus, was Musiklehrer damals vermitteln wollten: Dass jeder einzelne Ton, jede Gegenstimme, jede Begleitung erst im Zusammenspiel ihre volle Wirkung entfaltet. Die Schülerinnen und Schüler hören, wie erste und zweite Violine, Bratsche und Cello im Streichquartett zu einer „vollendetsten Form der Kammermusik“ verschmelzen.

Ein weiterer Höhepunkt des Unterrichts ist die Analyse von Antonín Dvořáks „Slawischem Tanz“ op. 46 Nr. 8. Die Schülerinnen und Schüler verfolgen auf dem Tonband, wie zunächst die Holzbläser ein Thema vortragen, dann Hörner, Fagotte und Triangel einen Rhythmus etablieren und schließlich die Streicher mit einer gefühlvollen Gegenstimme antworten. Die Lehrkraft stellt treffend fest: „Erst alle Instrumente zusammen ergeben den vom Komponisten gewünschten Klang.“ Dieses Prinzip von Teil und Ganzem war nicht nur eine musikalische Erkenntnis, sondern auch ein Spiegelbild jener Gesellschaft, in der kollektives Wirken über individuelle Glanzleistung gestellt wurde.

Gegen Ende der Stunde zeigt der Mitschnitt, wie Schlaginstrumente, Blechbläser und schließlich das gesamte Orchester den fulminanten Anfang der Dvořák-Nummer darbieten. Die jungen Zuhörer sind nun Zeugen einer akustischen Symphonie, in der jedes Element – vom leisen Pizzicato bis zum mächtigen Paukenwirbel – seinen festen Platz hat. Ein Schüler vermerkt später: „Ich habe verstanden, dass ein Orchester wie ein großer Körper ist. Jeder Muskel, jeder Knochen, jedes Organ muss passen, damit es lebendig wird.“ Vielleicht eine unerwartet philosophische Einsicht aus einer Unterrichtsstunde, die primär Wissen vermitteln sollte.

Heute, mehr als fünfzig Jahre später, beeindruckt der Mitschnitt nicht nur durch seine musikalischen Inhalte. Er ist ein Zeitdokument: Es zeigt, wie Bildung und Ideologie in der DDR ineinandergreifen, wie musikalische Ästhetik und kollektivistisches Denken miteinander verwoben waren. Zugleich erinnert es daran, dass Musik – unabhängig von gesellschaftlichen Systemen – Menschen zusammenführen und zu gemeinsamen Erlebnissen inspirieren kann. Ein Erbe, das weit über den Klassenraum in der Karl-Marx-Allee hinauswirkt.