
Berlin, 7. Dezember 1989. Während draußen die politische Landkarte neu gezeichnet wird und der Runde Tisch zum ersten Mal tagt, spielt sich in den Fluren des Instituts für Lehrerbildung „Clara Zetkin“ ein fast vergessenes Drama ab. Es ist der Versuch, die Unschuld zurückzugewinnen – oder zumindest die Hoheit über die Kinderzimmer der DDR.
Der Raum ist voll, die Luft zum Schneiden dick. Zigarettenrauch mischt sich mit dem Schweiß der Debatte. Wer hier am Tisch sitzt, hätte sich vor vier Wochen noch nicht einmal gegrüßt, geschweige denn zusammengearbeitet. Da sind sie, die Vertreter der alten Macht: Funktionäre der SED, Kader des Demokratischen Frauenbundes (DFD) und Pionierleiter in ihren blauen Hemden, die plötzlich verlegen wirken. Und ihnen gegenüber sitzen die Neuen, die Lauten, die Unbequemen: Vertreter des Demokratischen Aufbruchs, kritische Elternbeiräte und Mitglieder der „Liga für Kinder“.
Ein Riss durch das Klassenzimmer
Das Ziel dieser ungleichen Runde ist ambitioniert, vielleicht sogar naiv: Eine „einheitliche Kinderbewegung“ soll entstehen. Keine staatlich verordnete Marschrichtung mehr, kein Appell im Schulhof. Stattdessen fällt das Wort, das 40 Jahre lang tabu war: „Überparteilichkeit“.
Man spürt die Zerrissenheit in jedem Satz des Gründungspapiers. Die Initiativgruppe will eine Bewegung, die „offen für alle“ ist. Unabhängig von Weltanschauung. Unabhängig von Religion. Es ist eine Bankrotterklärung an das alte System der Thälmann-Pioniere, unterschrieben von genau jenen, die es einst trugen, und jenen, die es bekämpften. Die SED und der Demokratische Aufbruch in einem Boot – vereint durch die Sorge, dass die Jugend ihnen in diesem Chaos komplett entgleitet.
Zwischen Rettungsversuch und Neuanfang
Es ist ein historisches Paradoxon. Während die Mauer offen ist und der Westen lockt, versuchen diese Menschen, eine reformierte DDR-Identität für Kinder zu retten. Sie wollen Interessenvertreter sein, Anwälte der Kleinsten, weg vom Drill, hin zum Spiel, hin zur demokratischen Teilhabe. „Überall dort wirken, wo Kinder leben“, heißt der fromme Wunsch.
Doch dieser 7. Dezember ist mehr als nur ein Gründungsdatum. Er ist ein Symbol für die kurze, intensive Zeit der Anarchie und Hoffnung zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung. Es ist der Moment, in dem alte Feindbilder für einen Wimpernschlag pausieren, weil niemand weiß, was morgen kommt. Ob diese „einheitliche Bewegung“ überleben wird? Die Geschichte wird zeigen, dass die Pluralität stärker ist als die Einheit. Aber für heute, in diesem Institut, herrscht der Glaube an einen dritten Weg.