„Die Reißwölfe laufen heiß“ – Wie ein einziger Anruf das Ende der Stasi besiegelte

Es ist der Morgen des 4. Dezember 1989. Über den Schornsteinen der Stasi-Dienststellen liegt ein beißender Geruch. Die Gerüchteküche brodelt, doch es fehlt der Beweis. Dann meldet sich im Berliner Rundfunk eine Stimme zu Wort, die eigentlich schweigen sollte. Ein Radiobeitrag, der zur Lunte am Pulverfass der DDR-Revolution wurde.

Es roch nach verbranntem Papier in jenen kalten Dezembertagen. In Städten wie Erfurt, Suhl oder Leipzig sahen Anwohner dunkle Rauchschwaden aus den Kaminen der Bezirksverwaltungen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) aufsteigen. Die Menschen ahnten: Dort drinnen wird Geschichte gelöscht. Die „Firma“ verwischt ihre Spuren. Doch Ahnung ist kein Wissen, und ohne Beweise war die Macht der Angst noch immer groß.

Die Stasi, offiziell bereits in „Amt für Nationale Sicherheit“ (AfNS) umbenannt, existierte noch. Die Mitarbeiter waren bewaffnet, die Tore verschlossen. Bis zu diesem Montagmorgen.

Der Verrat aus den eigenen Reihen
Um kurz nach sieben Uhr morgens sendet der „Berliner Rundfunk“ – ein Staatssender der DDR – ein Interview, das wie eine Bombe einschlägt. Am Mikrofon ist kein Bürgerrechtler, kein Oppositioneller. Es ist Frank L., ein Oberleutnant der Staatssicherheit.

Seine Stimme ist ruhig, fast nüchtern, doch was er sagt, bricht mit dem eisernen Schweigegelübde des Geheimdienstes. Er bestätigt live im Radio, was alle befürchten: „Es geht mir darum, dass Akten oder Unterlagen oder Papiere verbrannt werden, vernichtet werden, durch den Ofen gehen.“

Der Offizier beschreibt detailliert, wie Vorgesetzte brisantes Material in die Heizungskeller schaffen, während die einfachen Mitarbeiter verunsichert in den Büros sitzen. Er begründet seinen Schritt an die Öffentlichkeit nicht mit Reue, sondern mit einer Art soldatischer Enttäuschung über die Feigheit der Führungsebene, die sich aus der Verantwortung stehle.

Das Signal für Erfurt
Die Wirkung dieses Interviews ist elektrisierend. Dass ein Insider im Radio die Vernichtungsaktion („Aktion Reißwolf“) bestätigt, verwandelt das Gerücht in eine Tatsache.

Hunderte Kilometer entfernt, in Erfurt, hört Almuth Falcke diesen Beitrag oder erfährt unmittelbar davon. Die Ärztin und enagierte Christin zögert nicht. Gemeinsam mit anderen Frauen macht sie sich auf den Weg zur Bezirksverwaltung in der Andreasstraße. Ihr Argument gegenüber den bewaffneten Wachen am Tor ist simpel und kraftvoll: „Im Radio haben sie gesagt, ihr vernichtet Akten. Das ist Volkseigentum. Wir wollen sehen, was hier passiert.“

Die Verunsicherung der Wachposten – verstärkt durch den „Verrat“ aus den eigenen Reihen im Radio – ist greifbar. Die Frauen werden eingelassen. Kurz darauf folgen hunderte Bürger. Um 10:30 Uhr ist die Erfurter Stasi-Zentrale als erste im Land besetzt. Die Aktenvernichtung wird gestoppt.

Ein Tondokument von welthistorischem Rang
Rückblickend erscheint der Radiobeitrag als einer der entscheidenden Dominosteine der Friedlichen Revolution. Ohne diesen „Whistleblower-Moment“ wären unzählige weitere Aktenmeter in den Öfen und Reißwölfen verschwunden.

Der Anruf von Frank L. war der Katalysator. Er nahm den Bürgern die letzte Angst vor der Allmacht des Apparates und gab ihnen die Legitimation, physisch einzugreifen. Am Abend des 4. Dezember brannten in den Stasi-Zentralen keine Akten mehr – stattdessen brannten Kerzen vor den Toren, gehalten von Tausenden, die nun wussten: Die Wahrheit lässt sich nicht mehr schreddern.

Der Originalmitschnitt des Interviews befindet sich heute im Stasi-Unterlagen-Archiv. Er dokumentiert jenen Moment, in dem die „Tschekisten“ die Kontrolle über ihr wichtigstes Herrschaftsinstrument verloren: das Wissen über ihre Bürger.