Der Verrat des Vaters: Ein Leben im Schatten der Stasi

Hannover, 1979. Thomas Raufeisen führt das Leben eines ganz normalen westdeutschen Teenagers. Er geht zur Schule, trifft Freunde und wächst behütet in bürgerlichen Verhältnissen auf. Was er nicht weiß: Sein Vater Armin ist kein gewöhnlicher Angestellter der Preussag, sondern ein Top-Agent des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Ein Familienausflug wird für den damals 16-Jährigen zum Albtraum, der sein Leben für immer verändern sollte.

Es ist eine Geschichte, die klingt wie aus einem Agententhriller, doch für Thomas Raufeisen ist sie bittere Realität. In einem Interview mit Frank Elstner schilderte Raufeisen eindrücklich, wie seine heile Welt von einem Moment auf den anderen zerbrach.

Die Reise ohne Wiederkehr
Alles begann mit einer Lüge. Thomas Raufeisens Vater behauptete, der Großvater in der DDR läge im Sterben. Es sei vielleicht die letzte Möglichkeit, ihn lebend zu sehen. Die Familie – Mutter, Vater, Thomas und sein älterer Bruder – brach sofort auf. Doch die rührende Sorge um den Großvater war nur ein Vorwand.

„Als wir dort ankamen, hat mein Vater die Wahrheit erzählt“, berichtet Raufeisen. In einem Gästehaus, flankiert von zwei fremden Männern, die sich später als Stasi-Offiziere entpuppten, ließ Armin Raufeisen die Bombe platzen. Er habe nicht nur für den westdeutschen Konzern Preussag gearbeitet, sondern dort gezielt Wirtschaftsinformationen für den DDR-Geheimdienst beschafft. Seine Tarnung im Westen drohte aufzufliegen, die Verhaftung stand kurz bevor. Die Flucht in die DDR war sein einziger Ausweg – und er hatte seine Familie mitgenommen.

Für den 16-jährigen Thomas brach eine Welt zusammen. „Das war ein absoluter Vertrauensbruch“, erinnert er sich. Der Vater, eine Respektsperson, wurde plötzlich zu einem Fremden.

Gefangen im System
Die Konsequenzen waren brutal. Während der volljährige Bruder sich weigern und nach einer zermürbenden Wartezeit in den Westen zurückkehren durfte, saßen Thomas und seine Mutter in der Falle. Thomas, als Minderjähriger, wurde ungefragt DDR-Bürger.

Doch Armin Raufeisen, der überzeugte Kommunist, der in den 1950ern von der Stasi angeworben wurde und im Auftrag des Staates Karriere im Westen machte, wurde von seinem eigenen Auftraggeber enttäuscht. Das Leben im „Arbeiter- und Bauernstaat“ entsprach nicht seinen Vorstellungen. Er plante, was die Stasi als unverzeihlichen Verrat ansah: die Flucht zurück in den Westen.

Der Versuch scheiterte. Die Familie wurde verhaftet.

Die Hölle von Hohenschönhausen
Was folgte, war eine Odyssee durch die Gefängnisse der Staatssicherheit. Thomas Raufeisen verbrachte drei Jahre in Haft, seine Mutter sogar sieben. Ihr wurde absurderweise vorgeworfen, sie hätte bei einer Ordensverleihung hochrangige Spione wie Markus Wolf identifizieren können – ein hypothetisches Vergehen, das schwer bestraft wurde.

Der Vater überlebte die Haft nicht. Armin Raufeisen starb unter mysteriösen Umständen im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen. „Er ist dort drinnen gestorben“, sagt Thomas Raufeisen heute nüchtern. Eine Versöhnung gab es nie.

Aufklärung statt Verbitterung
Heute, Jahrzehnte später, ist Thomas Raufeisen an den Ort seines Leidens zurückgekehrt. Er arbeitet als Referent in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, jenem ehemaligen Stasi-Gefängnis, in dem er und seine Familie inhaftiert waren.

Er führt Besucher, insbesondere Schulklassen, durch die Zellen und Verhörräume. Seine Geschichte macht die abstrakte Historie der DDR-Diktatur greifbar. „Es ist sehr eindringlich und glaubhaft, wenn man von persönlichen Erlebnissen erzählen kann“, erklärt er seine Motivation.

Trotz des traumatischen Erlebens wirkt Raufeisen nicht verbittert. Es geht ihm um politische Bildung und darum, jungen Menschen den Wert von Freiheit und kritischem Hinterfragen zu vermitteln. Auch mit seiner Mutter, die heute 83 Jahre alt ist, hat er einen Weg gefunden, über die Vergangenheit zu sprechen.

Thomas Raufeisens Geschichte ist ein mahnendes Beispiel dafür, wie politische Ideologien Familien zerstören können. Sein Vater opferte für seine Überzeugung nicht nur seine eigene Freiheit, sondern auch die Zukunft und das Vertrauen seiner Kinder.