Thomas ist fünf Jahre alt, spastisch gelähmt, und er sitzt auf einem Schreibtisch in einem Heim. Seine Mutter hat ihn nicht einmal selbst dort abgegeben; sie schickte ihren Freund, um sich danach in den Westen abzusetzen. Thomas wartet. Wochenlang. Er klammert sich an eine Notlüge.
Wenn wir an die Wende 1989 denken, sehen wir jubelnde Menschen auf der Mauer, wir denken an Bananen und Begrüßungsgeld. Wir sehen Freiheit. Doch wir vergessen oft den dunklen Schatten dieses taumelnden Herbstes. Für Hunderte Kinder in der DDR war der Ruf nach Freiheit der Startschuss in das ultimative Verlassensein. Eltern gingen, weil sie ein „besseres Leben“ wollten – und ließen das Kostbarste zurück.
Die Geschichten aus den Archiven sind kaum zu ertragen, weil sie eine so banale Grausamkeit offenbaren. Da ist Manuela, 14 Jahre alt. Ihr Vater verschwindet über Nacht mit seiner Freundin. Ein halbes Jahr später kommt ein Brief. Keine Entschuldigung, keine echte Reue. Stattdessen schwärmt er auf einem A4-Blatt von der neuen West-Wohnung mit „Bad und Warmwasser“ für 555 Mark Miete. „Vielleicht ist es besser so für dich“, schreibt er. Es ist die brutale Rationalisierung eines Verrats: Der eigene Komfort und das Versprechen des goldenen Westens wiegen schwerer als die Seele der Tochter.
Es war kein Einzelfall, es war eine Massenflucht aus der Verantwortung. Allein im Berliner Kinderheim „Makarenko“ wurden im November 1989 47 Kinder „abgegeben“. Geschwister wie Martin, Steve und Mark wurden dabei durch die Heimstrukturen oft auch noch voneinander getrennt. Die Behörden? Überfordert. Die Justiz? Gefangen in einem theoretischen Vakuum zwischen Ost und West, während Heimleiter vergeblich an die Öffentlichkeit appellierten.
Wie lebt man damit? Durch Verdrängung. Andrea Fuhrer-Krauses Mutter schwieg 20 Jahre lang über die Verletzungen, aus purer Angst vor der naheliegenden Frage: „Hast du dein Kind nicht geliebt?“ Wer nicht antwortet, muss sich nicht rechtfertigen. Wer im Rausch der Freiheit ist, schaut nicht zurück.
Thomas hatte Glück im Unglück. Seine Lehrerin Sylvia Werner holte ihn aus dem Heim, gab ihm das Urvertrauen zurück und wurde seine „richtige“ Mutter. Heute ist er selbst Vater, das Leben hat sich stabilisiert. Doch der Schmerz jenes kleinen Jungen auf dem Schreibtisch bleibt im Unterbewusstsein. Diese Eltern suchten im Westen ihr Glück. Aber ein neues Leben, das auf dem Trauma eines zurückgelassenen Kindes fußt, ist keine Freiheit. Es ist nur eine sehr weite, sehr feige Flucht.