Es gibt Stimmen, die erst Jahre nach einem politischen Umbruch ihre volle Sprengkraft entfalten. Günter Schabowski gehört zu ihnen. Der Mann, der am 9. November 1989 mit einer improvisierten Bemerkung die friedlichste Revolution Europas beschleunigte, hat in seinem späten Urteil über die Linkspartei eine Klarheit entwickelt, die in der deutschen Debatte bis heute erstaunlich wenig Resonanz findet. Seine Abrechnung ist keine Abrechnung eines Gegners. Sie ist die Diagnose eines Insiders, der sich selbst durch einen radikalen Prozess der Aufarbeitung von der Ideologie löste, der er Jahrzehnte lang gedient hatte.
Die Grundlage von Schabowskis Kritik ist sein moralischer Bruch mit der eigenen Biografie. Während andere ehemalige SED-Spitzenkader bis heute von „Siegerjustiz“ sprechen, akzeptierte er seine Verurteilung wegen der Todesschüsse an der Grenze ohne jeden Vorbehalt. Er sprach offen von Verantwortung – und von Schuld. Das war in der ehemaligen SED-Führung ein Tabubruch erster Ordnung. Schabowski erkannte, dass ein Staat, der sich selbst als „besser“ versteht, aber Menschen töten lässt, die ihn verlassen wollen, sich moralisch disqualifiziert hat. Die DDR war für ihn nicht länger ein verfehltes Projekt, sondern ein System, das seine Existenz auf Gewalt stützte. Diese Einsicht trug seinen späteren politischen Urteilen eine Schärfe ein, die man nur aus echter Selbsterkenntnis gewinnt.
Joachim Gauck, der Chronist der Diktatur und Verwalter der Stasi-Akten, nannte diese „Kraft zur Umkehr“ eine Form von geistiger Befreiung. Und tatsächlich: Schabowski wurde zu einem Zeugen, den man ernst nehmen muss, gerade weil er sich selbst nicht geschont hat. Von diesem moralischen Fundament aus las er die Linkspartei – und erkannte in ihr eine politische Kraft, die sich von der alten SED-Tradition nie wirklich gelöst habe.
Sein zentrales Argument ist provokant und zugleich präzise: Die Linke habe sich nicht trotz, sondern wegen ihrer DDR-Vergangenheit formiert. Schabowski hält sie für „DDR-gläubig und DDR-hörig“, für eine Partei, die ihre historische Identität bis heute aus einer positiven Bezugnahme auf ein untergegangenes System bezieht. Dass er darin zum „best gehassten Mann“ dieser Zirkel wurde, sah er als Bestätigung seiner These: Seine Reue war für jene, die keinen Bruch wollten, eine ständige, unausgesprochene Anklage.
Besonders scharf urteilt Schabowski über die Haltung der Linkspartei zur Aufarbeitung des Stasi-Erbes. Die Ablehnung Joachim Gaucks als Bundespräsident sei kein normaler politischer Vorgang gewesen, sondern Ausdruck eines Defensivreflexes. Gauck habe das Unrecht der DDR „intelligent und klug“ kritisiert, und gerade deshalb habe die Partei ihn abgelehnt. Dass einzelne Mitglieder ihn als „Hexenjäger“ bezeichneten, wertete Schabowski als Versuch, den Überbringer unangenehmer Wahrheiten zu diffamieren und so die eigene Vergangenheit vor dem Zugriff der Aufklärung zu bewahren.
Für ihn war die Frage der Stasi-Akten der ultimative Prüfstein: Offenheit oder Verdrängung? Gauck forderte dauerhafte Transparenz – die Linke, so Schabowski, wollte „den Deckel drauf“. Hinter dieser Formulierung steht eine grundlegende Kontroverse um historische Verantwortung. Während einige auf Wahrheit als Voraussetzung demokratischer Reife pochen, wollen andere Vergessen, weil Aufarbeitung ihr eigenes Selbstverständnis infrage stellt.
Am Ende seiner Analyse stellt Schabowski die Kritik an der Linkspartei in einen größeren Zusammenhang: den Erfolg der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung sei gelungen, sagt er, und zwar nicht politisch konstruiert, sondern aus einem menschlichen Bedürfnis heraus. Ostalgie hält er für eine „absurde Sache“ – ein sentimentales Ausweichmanöver jener, die bis heute nicht bereit sind, sich der Realität des SED-Unrechts zu stellen.
Schabowskis Worte sind kein Beitrag zur Tagespolitik. Sie sind ein historisches Dokument. Sie zeigen, dass Aufarbeitung nicht von außen verordnet werden kann, sondern aus einem inneren Bruch entstehen muss. Sein Blick auf die Linkspartei ist deshalb so scharf, weil er aus der Perspektive eines Mannes formuliert wurde, der die Wahrheit über das System, dem er gedient hat, am Ende selbst nicht mehr verdrängen wollte.
Es bleibt die Frage, die seine Analyse unausgesprochen stellt: Kann eine politische Kraft glaubwürdig nach vorn blicken, wenn sie die Schatten ihrer eigenen Vergangenheit nicht wirklich anerkennt? Schabowski hatte darauf eine klare Antwort. Und sie wirkt bis heute nach.