Einheit verpasst: Wie das DDR-Schulsystem unterschätzt wurde

Immer wenn ich über Bildung schreibe, lande ich unweigerlich in einem Gespräch mit meiner Mutter. Sie war Lehrerin – engagiert, überzeugt, mit beiden Beinen im Alltag der DDR-Schule. Und obwohl sie später, nach der Wende, neu anfangen musste, blieb sie in einem Punkt immer klar: Das Bildungssystem der DDR war in weiten Teilen richtig.

Nach der Wende wurde sie mit Kusshand auf einem Gymnasium aufgenommen. Sie erzählt heute, das seien ihre schönsten beruflichen Jahre gewesen – und gleichzeitig jene, in denen sie am häufigsten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hat. Immer dann nämlich, wenn der Westen kam und erklären wollte, „wie der Osten zu ticken hat“. Und keiner so recht hinhörte, was im Osten eigentlich alles vorhanden war: Erfahrung, Struktur, pädagogische Kompetenz – und eine Menge gesunder Menschenverstand.

Ich gebe ihr da recht. Wenn man den politischen Überbau einmal beiseitelässt – all das Ideologische, das wir hingenommen haben, weil es eben dazugehörte –, dann bleibt ein erstaunlich solides und gerechtes System übrig. Eines, das allen Kindern einen vergleichbaren Start ermöglichte. Vom Kindergarten über die Polytechnische Oberschule bis zur Erweiterten Oberschule gab es klare Strukturen, klare Erwartungen, klare Verantwortung. Kein Kind fiel durchs Raster, weil der Vater Arbeiter oder die Mutter Verkäuferin war.

Die normale Oberschule ging in der Regel bis zur 8. beziehungsweise bis zur 10. Klasse. Wer weiterführend lernen wollte, also auf die Erweiterte Oberschule (EOS), wechselte meist ab der 8. Klasse dorthin und blieb bis zur 12. Klasse. Natürlich gab es Auswahlkriterien, und ohne Parteimitgliedschaft in der Familie war der Weg dorthin mitunter schwieriger. Aber es gab Lehrerinnen und Lehrer, die für ihre Schüler kämpften – und oft erfolgreich. Andere, wie in meinem Fall, gingen einen Umweg: Ich verpflichtete mich für drei Jahre bei der Armee, um anschließend studieren zu können. Es gab also mehrere Wege – nicht alles war ideologisch ausgeschlossen.

Nach der Wende hätte man aus dieser Erfahrung lernen können. Nicht die Ideologie übernehmen, natürlich nicht – aber das pädagogische Fundament, die Struktur, die Idee von Chancengleichheit. Ein einheitliches Bildungssystem hätte nicht nur dem Osten, sondern auch dem Westen gutgetan. Stattdessen setzte sich der alte Bildungsföderalismus durch, der bis heute für Ungleichheit sorgt.

Und noch etwas wurde versäumt: eine echte politische Bildung aufzubauen. Eine, die nicht belehrt, sondern neugierig macht. Eine, die Kinder und Jugendliche befähigt, Demokratie zu verstehen, Verantwortung zu übernehmen und gesellschaftliches Engagement als Teil des Lernens zu begreifen.

Im Westen war politische Bildung eher Tradition, im Osten war sie ideologisch überfrachtet – in beiden Fällen aber nie wirklich lebendig. Nach 1990 hätte man diese beiden Erfahrungen zusammenführen können, um ein neues, gemeinsames Konzept zu entwickeln. Doch stattdessen hieß es: „Die DDR ist das da drüben – die gehören jetzt mit zu uns, und wir wissen, wie es richtig geht.“

Das war vielleicht der größte pädagogische Fehler der Wiedervereinigung: dass man Bildung nicht als Begegnung begriff, sondern als Übernahme.

Heute, 35 Jahre später, kann man das beklagen. Oder man kann es als Auftrag verstehen. Denn Bildung ist nie abgeschlossen – sie lebt von der Bereitschaft, neu zu denken. Und es ist nie zu spät, damit anzufangen.