Es war ein seltsam klarer Winter, damals, Ende 1989 in Jena. In den Räumen der evangelischen Gemeinde in der Ebertstraße saßen wir zusammen – Menschen, die vorher kaum etwas miteinander zu tun gehabt hatten. Arbeiter, Lehrer, Studenten, ehemalige Offiziere, Intellektuelle. Uns einte ein Gedanke: Es musste sich etwas ändern. Und zwar anders, als es uns beide Systeme – das zusammenbrechende sozialistische und das westliche kapitalistische – vorsetzten.
Der Begriff „Dritter Weg“ klang wie eine Verheißung. Eine Richtung, die jenseits der alten Blocklogik lag. Viele von uns glaubten an eine DDR, die sich reformieren, demokratisieren, vielleicht sogar zu einem besseren, menschlicheren Sozialismus werden könnte – einer, der die Menschen nicht gängelt, sondern mitnimmt.
Es war keine naive Träumerei, sondern ernst gemeinte Hoffnung. In den Papieren von Demokratie Jetzt oder dem Neuen Forum stand viel von Basisdemokratie, von Mitbestimmung, von sozialer Gerechtigkeit ohne Bevormundung. Selbst Intellektuelle wie Christa Wolf, Stefan Heym oder Volker Braun hatten das Gefühl, dass gerade in diesem Moment ein dritter Weg denkbar wäre – zwischen der alten Planwirtschaft und der westlichen Profitlogik.
Wir wollten eine Gesellschaft, in der das, was gut war – das Recht auf Arbeit, Kinderbetreuung, soziale Sicherheit – erhalten blieb, aber Freiheit, Meinungsvielfalt und Eigenverantwortung hinzukamen. Das war der Kern des Gedankens: ein demokratischer Sozialismus, getragen von unten.
Doch während wir noch diskutierten, wie man Betriebe demokratisch führen oder Räte wiederbeleben könnte, war draußen längst ein anderer Wind aufgekommen. Auf den Straßen riefen die Menschen „Wir sind ein Volk!“, nicht mehr „Wir sind das Volk!“. Die Mauer war gefallen, die D-Mark lockte, und das Bedürfnis nach Sicherheit, Wohlstand und endlich einem funktionierenden Alltag war stärker als alle theoretischen Modelle.
Als im März 1990 die ersten freien Volkskammerwahlen stattfanden, war der Traum schon Geschichte. Die Parteien, die sich für eine Alternative zwischen Sozialismus und Kapitalismus aussprachen, kamen auf magere Ergebnisse. Das Neue Forum, Demokratie Jetzt, die Vereinigte Linke – sie wurden zu Randnotizen in einer Welle der Wiedervereinigungseuphorie.
Ich erinnere mich gut an die Gesichter jener, die in den Runden saßen, überzeugt, dass eine andere DDR möglich sei. Sie fühlten sich bald wie Fremde im eigenen Aufbruch. Der Aufruf „Für unser Land“ sammelte über eine Million Unterschriften – beeindruckend, aber machtlos gegen die Geschwindigkeit, mit der die Realität die Visionen überholte.
Heute, mit dem Abstand von Jahrzehnten, bleibt die Frage: War der Dritte Weg von Anfang an eine Illusion? Vielleicht. Aber es war eine schöne. Eine, die wenigstens für einen Moment die Vorstellung zuließ, dass ein Staat sich neu erfinden könnte – friedlich, gerecht, solidarisch.
Vielleicht war dieser Traum notwendig, damit der Zusammenbruch nicht nur ein Ende war, sondern ein Versuch, noch einmal selbst zu denken, bevor alles übernommen wurde.
Ein kurzer Moment der Selbstbestimmung – bevor die Geschichte wieder ihren eigenen Lauf nahm.