Wenn Günter Schabowski in seinen späten Jahren über den Herbst 1989 sprach, dann tat er das mit der Ruhe eines Mannes, der weiß, dass sich Geschichte nicht zurückspulen lässt. In einem Gespräch, das er Jahre nach dem Ende der DDR führte, blickte er auf jene Wochen zurück, in denen die Macht der SED ins Wanken geriet. Seine Worte klangen nicht nach Rechtfertigung, sondern nach Einsicht – und manchmal nach Bitterkeit.
„Wir waren Befehlsempfänger aus Moskau“, sagte er. Ein Satz, der mehr über das Ende der DDR erzählt als viele Dokumente.
Schabowski, einst Mitglied des Politbüros und enger Weggefährte Erich Honeckers, beschrieb die Stimmung in der Parteiführung im Herbst 1989 als von „tiefer Verunsicherung“ geprägt. Die Demonstrationen auf den Straßen, die Reformen Gorbatschows in Moskau, die Forderungen der Bevölkerung nach Freiheit – all das ließ ein System taumeln, das über Jahrzehnte gelernt hatte, Befehle zu empfangen, aber nie selbst Verantwortung zu übernehmen.
Er sprach offen darüber, dass die Gefahr einer „chinesischen Lösung“, also einer gewaltsamen Niederschlagung der Proteste, durchaus existierte. Doch die Partei habe dazu weder die Entschlossenheit noch die Organisation besessen. „Die Angst war groß“, so Schabowski. „Niemand wollte mehr den Befehl geben.“
Die sowjetischen Reformen unter Michail Gorbatschow trafen die SED ins Mark. Gorbatschow sprach von Offenheit und Demokratie, während in Ost-Berlin noch der alte Ton der Parteidisziplin herrschte. Schabowski erkannte, dass die DDR damit ihre letzte Rückendeckung verlor: „Wir konnten nicht gegen unser eigenes Volk vorgehen, wenn Moskau zur Mäßigung riet.“ Die DDR, jahrzehntelang stolz auf ihre angebliche Eigenständigkeit, stand plötzlich allein da.
Die Menschen spürten diese Unsicherheit. Sie merkten, dass die Führung zögerte – und sie gewannen Mut. Schritt für Schritt, Woche für Woche, bis das System unter der Last seiner eigenen Lähmung zusammenbrach. Schabowski nannte das später den Punkt, an dem das Schicksal der SED besiegelt war.
Von diesem Mann blieb in der öffentlichen Erinnerung vor allem der Moment am 9. November 1989 – der Abend, an dem er mit fahrigen Worten auf einer Pressekonferenz die Maueröffnung auslöste. Doch wer Schabowskis spätere Reflexionen kennt, erkennt, dass dieser Augenblick nur die sichtbare Folge eines viel früheren Zusammenbruchs war: dem inneren Zerfall einer Macht, die sich selbst nicht mehr glaubte.
Günter Schabowski starb am 1. November 2015 in Berlin im Alter von 86 Jahren. Er war Diabetiker, lebte nach mehreren Infarkten und Schlaganfällen zuletzt in einem Berliner Pflegeheim. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Waldfriedhof Dahlem.
Ein Mann, der die Macht verkündete und später über ihren Verlust sprach – und vielleicht gerade darin so menschlich blieb.