Angela Merkel war 16 Jahre lang Kanzlerin – und doch blieb ein Teil ihrer Geschichte im Verborgenen. Erst ganz am Ende, in ihrer Rede zum Tag der Deutschen Einheit 2021, sprach sie offen über die Verletzungen, die mit ihrer Herkunft aus der DDR verbunden waren. Nun erklärt sie, warum sie so lange geschwiegen hat: Es war Selbstschutz.
Ein Erlebnis von 1992 zeigt das Dilemma. In Schwerin erzählte Merkel beiläufig von ihrer Promotionsarbeit zum Marxismus-Leninismus – und davon, dass sie eine schlechte Note bekam, weil sie den Bauern zu viel, den Arbeitern zu wenig Gewicht gab. Was als kleine Anekdote gedacht war, löste eine regelrechte Jagd nach dieser Arbeit aus. Dass sie nie gefunden wurde, weil es in der DDR keine Kopien gab und das Original vernichtet war, spielte keine Rolle. Zurück blieb das Misstrauen. Merkel zog ihre Konsequenz: Keine offenen Worte mehr über die eigene Biografie, solange nicht jede Quelle wasserdicht belegt war. Der „Ostdefekt“ sollte ihr nicht nachgesagt werden können.
Genau hier liegt ein Kernproblem der deutschen Einheit. Ostdeutsche Biografien wurden zu lange als Belastung gelesen – als Makel, nicht als Erfahrung. Noch 30 Jahre später war in Büchern vom „Ballast“ der DDR-Sozialisation die Rede. Wer so urteilt, macht Millionen Menschen zu Objekten: zu Tätern oder Opfern, selten zu eigenständigen Lebensläufen.
Merkel widerspricht dieser Engführung. Sie erinnert daran, dass viele Ostdeutsche unter schwierigen Bedingungen Wege gefunden haben, integer zu leben. Dass sie gelernt haben, zwischen den Zeilen zu lesen, Unsicherheiten auszuhalten, Umwege zu meistern. Das sind Fähigkeiten, die auch im heutigen Deutschland dringend gebraucht würden. Aber statt diese Ressourcen anzuerkennen, müssen sich viele bis heute rechtfertigen, dazuzugehören.
Die Zahlen sprechen für sich: Für 62 Prozent der Ostdeutschen war die Einheit ein Gewinn. Im Westen hingegen gaben zwei Drittel an, sie habe ihr Leben kaum verändert. Wer die Kluft in der Wahrnehmung verstehen will, muss genau hier hinschauen. Für die einen war es ein tiefer Einschnitt, für die anderen nur eine Randnotiz.
Angela Merkel nennt die Wiedervereinigung einen „großen Glücksfall“ – und setzt einen stillen Kontrapunkt: Heute sitzt sie im Büro, in dem einst Margot Honecker regierte. Das ist mehr als Ironie der Geschichte. Es ist die Erinnerung daran, dass Systeme scheitern können – aber Biografien bleiben. Und sie verdienen Respekt, nicht Misstrauen.