35 Jahre nach der Wiedervereinigung wird die deutsche Einheit gern als Erfolgsgeschichte erzählt: Mehr Menschen leben heute in Deutschland, mehr Wohlstand, mehr Modernität, mehr Globalität. So klingen die Berichte, so tönen die Reden. Doch ein Blick auf die nackten Zahlen offenbart einen zentralen Widerspruch.
Denn wenn die Einheit so erfolgreich gewesen wäre, wie sie gefeiert wird, müssten die Menschen im Osten geblieben sein. Sie hätten investiert, Familien gegründet, Häuser gebaut. Kapitalismus verspricht Aufstieg, Sicherheit, Chancen – und wer Chancen hat, bleibt. Doch im Osten trat das Gegenteil ein: Abwanderung in Massen. Minus 16 Prozent seit 1990. Ganze Landstriche leer, junge Menschen weg, zurück blieben Alter und Leere. Bayern und Baden-Württemberg boomten, Sachsen-Anhalt verlor ein Viertel seiner Bevölkerung. Die Einheit – offiziell triumphal – zeigt hier ihre Schattenseite.
Selbst Jena, die angebliche „Perle des Ostens“, entkommt dem Schrumpfungsproblem nicht. Wirtschaftlich erfolgreich, reich an Forschung, Universitäten und Arbeitsplätzen – und trotzdem verlassen die Menschen die Stadt. Das ist kein Zufall, das ist ein Alarmsignal: Wenn selbst ein Vorzeigeort des Aufschwungs seine Einwohner nicht halten kann, dann ist das Eingeständnis, dass die Erzählung vom erfolgreichen Osten nur eine Fassade ist. Es reicht nicht, Zahlen zu präsentieren oder Rankings zu feiern. Die Einheit funktioniert nicht in den Köpfen der Menschen, sie schafft keine Bindung, keine Heimatperspektive. Jena zeigt ungeschminkt: Wer nur auf Wirtschaft setzt, verliert am Ende das Wichtigste – die Menschen selbst.
Ein weiterer zentraler Punkt wird oft übersehen: Die sogenannten „Leuchttürme“ – Städte, die wirtschaftlich, kulturell und wissenschaftlich stark sind – hätten konsequent ausgebaut werden müssen. Berlin, Leipzig und Dresden machen es vor: Hier werden Infrastruktur, Arbeitsplätze und Lebensqualität gezielt gestärkt. Im ländlichen Umland hingegen fehlen die Voraussetzungen, um den Erfolg einfach weiterzugeben. Thüringen, Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern hinken hier noch weit hinterher. Wer die Leuchttürme nicht stützt, kann die Regionen nicht retten. Das ist eine der Hauptursachen für Abwanderung und Einwohnerschwund.
Und doch wird weiter von Erfolg gesprochen. Paraden, Jubiläen, Sonntagsreden. Gemessen an Wanderungsbewegungen, Demografie, an dem, was Menschen tatsächlich tun, sieht die Bilanz anders aus: Politisch vereint, ökonomisch gespalten. Das ist der zentrale Widerspruch der Einheit – und er ist bis heute ungelöst. Solange die Menschen nicht bleiben, solange Regionen schrumpfen, solange Perspektiven junger Generationen fehlen, bleibt die Einheit eine Geschichte der Zahlen – nicht der Lebenswirklichkeit.
35 Jahre Einheit: Erfolg auf dem Papier, Minuszeichen in der Realität.