Ein dramatisches Tauchmanöver unter der innerdeutschen Grenze sichert die Freiheit für eine ganze Familie.
Jahrzehntelang teilte eine undurchdringliche Grenze Deutschland, ein System aus Zäunen, Minen und Selbstschussanlagen, streng bewacht von tausenden Soldaten und Zivilisten. Rund 1400 Kilometer lang war dieser Todesstreifen, der für etwa 650 Menschen tödlich endete, so schätzt die Stiftung Berliner Mauer. Doch der Wunsch nach Freiheit war stärker als jede Mauer, jeder Zaun und jede Drohung. Eine Geschichte, die dies eindrucksvoll belegt, ist die von Roland Schreyer und seiner Familie.
Geboren in Oscha und aufgewachsen in Harbe, nur wenige hundert Meter von der innerdeutschen Grenze entfernt, erlebte Roland Schreyer eine Kindheit in einem Sperrgebiet. Seine Eltern hatten schon immer mit dem Gedanken gespielt, in den Westen zu gehen, besonders weil Geschwister und die Großmutter seiner Mutter bereits über Berlin geflohen waren. Doch eine neue Küche hielt seine Mutter damals zurück. Dennoch zirkulierten Gerüchte, der sogenannte „Buschfunk“, über Fluchtversuche. Insbesondere in den 1960er Jahren sollen viele Menschen auf Minen getreten und Gliedmaßen verloren haben, eine traurige Realität, von der Schreyers Mutter als Gemeindeschwester und sein Vater bei der Polizei erfuhren.
Der Grenzübergang Marienborn und eine erste Chance
Später arbeitete Roland Schreyer als Zivilangestellter Elektriker am Grenzübergang Marienborn. Dort rollte der Autoverkehr zwischen der Bundesrepublik und Westberlin über Transitstrecken, überwacht von Stasi, Volkspolizei, DDR-Zoll und freiwilligen Helfern. Schreyer spekulierte, dass sich hier eine Fluchtgelegenheit bieten könnte: Wenn die letzte Ampel hinter den Kontrollen defekt war, fuhr er zur Reparatur hinaus, stets begleitet von zwei Posten mit Maschinenpistolen, die nur wenige Meter hinter ihm standen. Der Bundesgrenzschutz auf der Westseite wartete mit gelöstem Halfter, wie in einem „Cowboyfilm“, wahrscheinlich um ihn zu schützen, sollte er die Flucht wagen. Doch zu diesem Zeitpunkt war Schreyer bereits verheiratet und hatte ein Kind – das Risiko war zu hoch.
Honeckers Besuch und der Wunsch nach Reisefreiheit
Die Stimmung änderte sich dramatisch, als Erich Honecker 1987 die Bundesrepublik besuchte und Reiseerleichterungen besprochen wurden. Eine Welle der Unruhe erfasste die DDR, überall wurde über Westreisen gesprochen. Dies fachte auch Schreyers Fluchtgedanken neu an. Als Pädagoge und Familienvater fasste er einen Plan: Westverwandte täuschten eine Hochzeit vor, Schreyer sollte die Ausreise genehmigt bekommen und dann bleiben. Der Abschied von Frau und Tochter am Bahnhof Marienborn war zutiefst emotional. In Essen angekommen, erklärte er sofort seinen Entschluss, im Westen zu bleiben.
Doch die Hoffnung, dass Frau und Kind bald nachkommen würden, erfüllte sich nicht. Seine Frau beantragte eine Familienzusammenführung, die die DDR jedoch ablehnte. Die Folgen waren gravierend: Rolands Vater wurde entlassen, seine Frau von der Stasi schikaniert. Im innerdeutschen Ministerium in Bonn erfuhr er die bittere Wahrheit: Man könne ihm nicht helfen, da die Bundesrepublik nur Häftlinge freikaufe. Die Worte „Sie werden wahrscheinlich ihre Familie nie wiedersehen“ trafen ihn wie ein Schlag ins Gesicht.
Die „Probeflucht“ durch die Wirbe
Verzweifelt grübelte Schreyer nachts und erinnerte sich an seinen Heimatort Habke und den Bach Wirbe, der Richtung Westen floss. Er wusste, dass die Absicherung eines Baches an der Grenze immer ein Problem darstellte. Die Idee einer „Probeflucht“ war geboren: Er wollte nachts dorthin fahren und einen Weg für seine Familie finden. Mit Neoprenanzug und Werkzeug machte er sich auf den Weg.
Vom Westen her war eine Unterführung, eine Röhre, offen zugänglich. Was Schreyer zunächst für eine durchgehende Röhre hielt, entpuppte sich als vier Abschnitte. Er kroch hinein und stieß auf ein Gitter. Die zwei unteren Gitterstäbe sägte er unter Wasser durch. Währenddessen hörte er Motorräder und sah die Stiefel von Posten über sich auf dem Kolonnenweg vorbeifahren. Er tauchte unter, um unentdeckt zu bleiben.
Nachdem er ein weiteres Gitter entfernt und hochgeschoben hatte, kam er aus der Röhre. Dann sah er einen „Silberstreif“ über dem Bach – einen gespannten Draht mit Signalkugeln, keine Selbstschussanlage, sondern Leuchtkugeln. Er bückte sich und schlüpfte darunter hindurch, um wieder in die Röhre zu gelangen. Ein weiteres, sehr dickes Gitter stellte ihn vor eine scheinbar unüberwindbare Hürde. Unten rechts jedoch fehlte ein dreieckiges Stück. Er versuchte, hindurchzutauchen, doch seine Schultern blieben stecken. In nur 30-40 cm Wassertiefe hing er fest, konnte weder vor noch zurück und drohte zu ertrinken. Mit letzter Kraft befreite er sich und kroch weiter, völlig desorientiert in der Dunkelheit.
Schließlich erkannte er ein Gitter, das er kannte: Es war das an der Sommersdorfer Straße, der einzigen Straße aus Habke heraus. Die „Probeflucht“ war erfolgreich.
Die spektakuläre Rettung der Familie
Nur sechs Tage später kehrte Roland Schreyer zurück. Diesmal unterquerte er die innerdeutsche Grenze zum vierten Mal – begleitet von seiner Frau, seiner Tochter und seinem Vater, für die es das erste Mal war. Staatsicherheit Fotos dokumentieren die spektakuläre Flucht.
Als sie den leichten Berg hinaufliefen und sich setzten, war der Anblick emotional überwältigend. Einerseits die große Freude, es geschafft zu haben, in Freiheit zu sein. Andererseits die tiefe Trauer, die Heimat, Freunde und alles Vertraute zu verlieren, mit dem Wissen, es vielleicht nie wiederzusehen. Noch einmal gingen sie zur Grenze, und wieder wurden die Fotos, die dabei entstanden, von der Stasi gemacht.
Roland Schreyers Geschichte ist ein Zeugnis von unerschütterlichem Mut, Entschlossenheit und der tiefen Verbundenheit einer Familie, die bereit war, größte Gefahren auf sich zu nehmen, um gemeinsam in Freiheit zu leben.