Kranichfeld, Thüringen – Inmitten des sanft geschwungenen Ilmtals, dort, wo sich Wälder und Wiesen zu einem stillen Panorama verweben, thront die Kleinstadt Kranichfeld mit ihrer ungewöhnlichen Doppelburg. Oberschloss und Niederburg, zwei herrschaftliche Bauwerke, berichten von wechselvollen Jahrhunderten, politischer Teilung und jüngst wiedererwachtem kulturellem Leben. Ein Besuch vor Ort offenbart Geschichte zum Anfassen – und einen ungewöhnlichen Weg, wie Erinnerung und Moderne hier Hand in Hand gehen.
Am steilen Hang über der Stadt erhebt sich das Oberschloss, einst Sitz der Vögte Reuß von Plauen. Seine Anfänge reichen bis ins 12. Jahrhundert zurück, als eine mittelalterliche Burganlage den Handel entlang der „Böhmischen Straße“ sicherte. Im 16. Jahrhundert verlieh man dem Bau sein heutiges Gesicht: Renaissancefassaden, ein imposanter Bergfried und ein Festsaal mit historischen Stuckdecken. Nach einem verheerenden Brand 1934 verfiel das Anwesen zusehends, bis sich Anfang der 1980er Jahre eine private Initiative zur Rettung formierte. Heute erstrahlt der „Dicke Turm“ mit seiner gläsernen Kuppel in neuem Glanz und gewährt Besuchern einen unvergleichlichen Blick über das Ilmtal.
Nur wenige hundert Meter entfernt, am östlichen Dorfrand, liegt die Niederburg – fast ein Spiegelbild in Miniatur. Ebenfalls im 12. Jahrhundert errichtet, diente sie lange als Bollwerk gegen feindliche Übergriffe. Unter den Grafen von Gleichen im 16. Jahrhundert entstand hier ein Schloss, das im Laufe der Zeit wechselnden Nutzungen unterlag: Herbstfeste, Ferienwohnungen, sogar eine Gaststätte beherbergte die historischen Gemäuer. 1989 ging die Burg in städtischen Besitz über und öffnete sich als kultureller Treffpunkt. In der Vorburg begeistert seit 2004 der Adler– und Falkenhof Schütz mit spektakulären Greifvogelvorführungen, die Besucher in die Welt majestätischer Gefährten entführen.
Zwischen den beiden Anlagen verlief bis 1912 eine unsichtbare Grenze quer durch Kranichfeld: Oberschloss und Niederburg standen jahrhundertelang jeweils für unterschiedliche Herrschaftsbereiche, geteilt zwischen den Linien Reuß und Gleichen. Die Doppelherrschaft prägte bis ins frühe 20. Jahrhundert das Leben der Stadtbewohner, deren Nachfahren noch heute Geschichten von getrennten Schulen, Märkten und Verwaltungsämtern überliefern.
Doch längst ist die Stadt wieder eins – und setzt nun auf den touristischen Reiz ihrer Burgen. Geführte Schlossrundgänge, Mittelalterfeste im Sommer und regelmäßige Konzerte in der historischen Remise locken jährlich tausende Besucher an. Auch das Kulturprogramm im Schatten der Mauern wächst beständig: Theateraufführungen und Kunstausstellungen beleben die Innenhöfe, während im Burggarten regionale Winzer ihre Weine kredenzen.
Für Kranichfeld ist dieses Engagement mehr als Wirtschaftsförderung: Es ist ein Bekenntnis zur eigenen Identität. „Die Burgen sind das historische Gedächtnis unserer Stadt“, erklärt Bürgermeisterin Claudia Reuter. „Wir möchten den Menschen von hier und anderswo zeigen, wie lebendig unsere Traditionen sind und wie wir sie in die Gegenwart retten.“ In Workshops etwa stellen heimische Handwerker altes Tischlerhandwerk vor oder vermitteln das Wissen um traditionelle Steinmetztechniken.
Wer heute über den markanten Sandsteinsteg zwischen Oberschloss und Niederburg schlendert, spürt diesen Dialog zwischen Gestern und Jetzt. Sonnenstrahlen glitzern auf den Zinnen, während Kinder in der Burganlage dem Klang von Dudelsack und Trommel lauschen. Am Horizont verweben sich Historie und Natur; und plötzlich wird spürbar, dass Kranichfelds Doppelburg keine bloße Touristendestination ist, sondern ein lebendiger Ort – fürs Erfassen, Erleben und Verweilen.
Praktische Tipps: Oberschloss-Führungen finden von April bis Oktober jeweils samstags und sonntags statt, Einlass ist ab 10 Uhr. Die Niederburg bietet im Sommerhalbjahr täglich Greifvogelshows um 14 Uhr an. Mehr Informationen zu Veranstaltungen und Ticketbuchung gibt es auf den Websites der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten sowie der Stadt Kranichfeld. So hält das Jahr über Geschichte Einzug in den Alltag – und lädt uns ein, sie neu zu entdecken.