Andrej Hermlin „Wir gehen sehenden Auges in den Untergang dieser Republik“

Ein Gespräch mit Musiker und Zeitzeugnis Andrej Hermlin über DDR-Erinnerungen, Antisemitismus und die aktuelle Krise Deutschlands

Jazz-Pianist und Dirigent Andrej Hermlin gewährte der Bundesstiftung Aufarbeitung einen tiefgehenden Einblick in seine Kindheit in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), seine Erfahrungen während der Wende und seine besorgte Sicht auf die Bundesrepublik heute.

Hermlin, der sich selbst als „privilegiertestes Kind der DDR“ bezeichnet, wuchs mit Auslandsaufenthalten am Lago Maggiore, in Paris und Stockholm auf – doch West‑Berlin blieb ihm bis Frühjahr 1989 verschlossen. Schon als Schüler habe er die Teilung Deutschlands nie als natürlichen Zustand betrachtet, berichtet er, und in seinem „grenzenlosen Idealismus“ auf einen reformierten Sozialismus nach dem Vorbild Gorbatschows gehofft.

Bereits während seines Grundwehrdienstes bei der Nationalen Volksarmee 1985/86 habe er gespürt, dass das System „auf tönernen Füßen“ stehe. In einer hitzigen Diskussion erklärte er seinem Zugführer, die DDR-Bevölkerung habe „die Schnauze voll vom Sozialismus“ – eine Sicht, die der Soldat irritiert, aber schließlich anerkennend zur Kenntnis nahm.

Erinnerungen an das frühe 1980er-Jahre-Beispiel einer fiktiven „Bild-Zeitung“, die weinende Menschen und die Bundeswehr am Brandenburger Tor zeigen sollte, unterstreichen für Hermlin die Unvermeidlichkeit des Zusammenbruchs. Am Abend des 9. November 1989, als er erstmals West‑Berlin betrat, sei genau dieses Motiv in seinem Kopf gewesen.

Die Wiedervereinigung beschreibt Hermlin als „finanziell eine Erstklass-Reunion“: Die meisten Ostdeutschen hätten in Wohlstand und Freiheit gewonnen. Problematisch sei jedoch die Demütigung gewesen, die viele durch triumphale West‑Rhetorik empfanden. Dieses „Triumphgeheul“ habe Ostidentitäten gestärkt und bis heute politische Strömungen genährt, die sich als „Stachel im Fleisch“ begreifen.

Zur Wirtschaft der DDR sagt Hermlin: Sie war nicht nur ökonomisch überholt, sondern „moralisch bankrott“. Veraltete Fabriken und fehlende Reisefreiheit hätten das System zum Einsturz gebracht – nicht zuletzt, weil die Menschen „die Bevormundung satt hatten“. Eine Rettung sei angesichts mangelnder Investitionsläufe ohnehin unrealistisch gewesen.

Einen klaren Bruch macht Hermlin mit Begriffsbildungen wie „Ossi“ und „Wessi“: Er sehe in allen Deutschen gleichberechtigt Söhne und Töchter dieses Landes. Sein persönliches Erleben von Antisemitismus in Schule und Politik, etwa beim Ringen um die US-Serie „Holocaust“, habe ihn jedoch nachhaltig geprägt. Er warnt eindringlich vor neuen Ressentiments, die er in pro-palästinensischen Demonstrationen und in Teilen der Kulturszene beobachtet.

Die Parallelen zwischen dem Ende der DDR und der aktuellen Bundesrepublik sieht Hermlin vor allem in der wachsenden Entfremdung zwischen Regierten und Regierenden: ein „Sprechen übereinander statt miteinander“, ein Verlust von Dialog und gesellschaftlicher Kohäsion. Fehlende große Ideen und kaputte Infrastruktur verstärkten das Gefühl eines „Zerfallsprozesses“.

Hermlins Fazit ist nüchtern: Er rechne nicht damit, dass die Republik in ihrer heutigen Form in fünf Jahren noch existiere. Sein Appell lautet: mehr Demut, echten Dialog und ein klares Bekenntnis zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland, um dem drohenden Zerfall entgegenzusteuern.



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