Als wissenschaftlicher Mitarbeiter und überzeugter Demokrat prägte Wolfgang Thierse nicht nur die politische Landschaft der DDR, sondern ebnete auch den Weg für eine neue Ära in der deutschen Parlamentarismusgeschichte. Geboren 1943 in Breslau, zeigte Thierse schon in jungen Jahren politisches Interesse – ein Interesse, das er in der Diktatur der DDR nicht offen leben konnte. Seine bewusste Entscheidung, sich von der SED und den Blockparteien fernzuhalten, machte ihn in jenen Jahren zu einem stillen Widerstandskämpfer.
Mit dem Ausbruch der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 öffnete sich für Thierse eine Tür: Die Möglichkeit, aktiv an der politischen Umgestaltung teilzunehmen. Zunächst im Neuen Forum aktiv, fand er rasch den Weg in die neu gegründete Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP, später SPD Ost). Über eine Listenwahl gelang ihm der Einzug in die 10. Volkskammer – ein Parlament, das ganz anders tickte als der westdeutsche Bundestag, dessen Debatten er seit Jahrzehnten mit Begeisterung verfolgte.
Thierse, der sich nie als Minister sehen wollte, fand seine Berufung im öffentlichen Debattieren. Schon während des intensiven Wahlkampfs in Berlin, bei dem er selbst Wahlmaterial verteilte und erste, schüchterne Kontakte knüpfte, machte er Erfahrungen, die ihn nachhaltig prägten. Inspiriert von einem engagierten SPD-Senator aus West-Berlin, lernte er, wie wichtig es ist, als Abgeordneter den direkten Draht zur Bevölkerung zu pflegen.
Der parlamentarische Alltag in der 10. Volkskammer gestaltete sich als ein wahrer „Learning-by-Doing“-Prozess. Mit fast allen Abgeordneten unerfahren in der parlamentarischen Arbeit, prägten intensive Debatten, der Umgang mit der Affäre um den später als Stasi-Spitzel entlarvten Spitzenkandidaten Ibrahim Böhme sowie die Frage nach einer Regierungsbeteiligung die ersten Monate der neuen Demokratie. Dabei war die Unterstützung der westdeutschen SPD, insbesondere durch Persönlichkeiten wie Hans-Jürgen Vogel, von unschätzbarem Wert – eine Haltung, die Thierse bis heute als Ausdruck von Respekt und Gleichbehandlung in Erinnerung behält.
Besonders hervorzuheben ist Thierses Erkenntnis, dass Demokratie weit mehr als nur eine Regierungsform ist. Für ihn bedeutete sie auch den freien Meinungsaustausch – ein Gut, das in den „Orten der Freiheit“ wie den Kirchen in der DDR besonders spürbar war. Diese Institutionen boten den Raum, den die strenge staatliche Zensur sonst überall vermissen ließ, und ermöglichten den politischen Neulingen, sich ohne Angst vor Repressionen zu äußern.
In seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag legte Thierse den Grundstein für eine gemeinsame, aber ungleiche deutsche Einheit. Er kritisierte die Dynamik, in der das westdeutsche Modell als Erfolgsrezept inszeniert wurde, während die ostdeutsche Erfahrung als lehrreich, aber minderwertig abgestempelt blieb. Für ihn stand fest: Eine echte Einheit könne nur auf Augenhöhe erreicht werden – ein Anspruch, der auch heute noch nachhallt.
Die sechsmonatige Zeit in der Volkskammer mag kurz gewesen sein, doch sie war geprägt von einer Intensität, die Thierse zeitlebens nicht vergessen wird. Der Übergang von einem zurückgezogenen Wissenschaftler zu einer öffentlichen Stimme für die Ostdeutschen war ein unerhörter Lernprozess – ein Prozess, in dem der Wunsch, die Menschen zu erreichen und die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren, stets im Vordergrund stand.
Heute blickt Thierse mit Stolz auf diese Zeit zurück – als eine Epoche des Umbruchs, in der nicht nur politische Strukturen neu definiert, sondern auch persönliche Grenzen überschritten wurden. Sein politischer Werdegang steht exemplarisch für den Mut, Veränderungen anzustoßen, und für die Überzeugung, dass Demokratie immer auch ein fortwährender Lernprozess ist.