Ein historisches Dokument vom 28. November 1989 enthüllt die diplomatische Meisterleistung von Helmut Kohl wenige Tage vor dem Weltgipfel.
Bonn/Washington. Es sind genau drei Wochen seit dem Fall der Berliner Mauer vergangen. Die Euphorie auf den Straßen Berlins und Leipzigs ist ungebrochen, doch in den Kanzleien der Weltmachtpolitik herrscht nervöse Anspannung. Ein Brief, datiert auf den 28. November 1989, gewährt nun einen faszinierenden Einblick in den Maschinenraum der deutschen Wiedervereinigung. Absender: Bundeskanzler Helmut Kohl. Adressat: US-Präsident George H.W. Bush.
Das Dokument, intern als „Dokument Nr. 2“ geführt, ist weit mehr als eine höfliche Korrespondenz unter Verbündeten. Es ist ein dringender strategischer Appell kurz vor dem entscheidenden Gipfeltreffen zwischen Bush und dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow vor der Küste Maltas.
Die Angst vor einem neuen Jalta
Kohls größte Sorge, die wie ein roter Faden durch das Schreiben verläuft, ist das Gespenst der Geschichte. Er fürchtet ein „Jalta 2.0“ – eine Situation, in der die Supermächte über die Köpfe der Deutschen hinweg den Status quo in Europa zementieren könnten, um die geopolitische Lage zu beruhigen.
„Ich bin Dir sehr verbunden, George“, schreibt Kohl, „für die Klarheit, mit der Du jede Parallele zwischen Jalta und Malta zurückgewiesen hast.“ Es ist ein Satz, der Erleichterung verrät, aber auch Mahnung ist. Kohl drängt darauf, dass der kommende Gipfel keinesfalls den Anschein erwecken darf, die Teilung Europas erneut festzuschreiben.
Stabilität neu definiert
Der vielleicht brillanteste Schachzug des Kanzlers in diesem Brief ist semantischer Natur. Er weiß, dass Gorbatschow in Malta das Argument der „Stabilität“ nutzen wird, um den rasanten Wandel in der DDR zu bremsen. Kohl liefert Bush daher eine neue Definition des Begriffs, sozusagen Munition für das Gespräch mit dem Kreml-Chef.
Wahre Stabilität, so argumentiert Kohl, entstehe nicht durch das Stützen maroder Regime, sondern durch Reformen und Selbstbestimmung. „Destabilisierung“, schreibt er, komme vielmehr aus der Unterdrückung und der Verweigerung von Reformen – ein direkter Verweis auf die Unruhen in der Tschechoslowakei und Rumänien.
Der 10-Punkte-Plan als Fahrplan
Herzstück des Briefes ist jedoch Kohls Erläuterung seines berühmten „10-Punkte-Plans“, den er kurz zuvor im Bundestag vorgestellt hatte. Gegenüber Bush tritt er hier als Architekt einer neuen Ordnung auf. Von humanitärer Soforthilfe über konföderative Strukturen bis hin zur endgültigen staatlichen Einheit skizziert er einen Weg, der für Washington und Moskau gleichermaßen akzeptabel sein soll.
Besonders brisant ist Kohls Bitte an Bush bezüglich der Sowjetunion: Der Präsident solle verhindern, dass Gorbatschow eine Art „Containment“ (Eindämmung) der deutschen Frage durchsetzt. Die Einheit sei eine Frage der Selbstbestimmung, und die Demonstranten in der DDR riefen nicht mehr nur „Wir sind das Volk“, sondern zunehmend „Wir sind ein Volk“.
Der Blick nach Moskau
Kohls Analyse der Lage in der Sowjetunion ist nüchtern und präzise. Seine Berater melden ihm, dass Gorbatschow zwar politisch noch fest im Sattel sitze, die wirtschaftliche Lage der UdSSR jedoch katastrophal sei – schlimmer als bei dessen Amtsantritt. Dies, so das Kalkül, mache Moskau abhängig von westlicher Hilfe und damit kompromissbereit.
Dieser Brief vom 28. November 1989 ist ein Zeugnis dafür, wie eng die Abstimmung zwischen Bonn und Washington in diesen schicksalhaften Tagen war. Er zeigt einen Kanzler, der nicht nur auf die Ereignisse reagiert, sondern sie aktiv gestaltet – mit dem festen Ziel der Einheit vor Augen und dem Wissen, dass er dafür den mächtigsten Mann im Weißen Haus an seiner Seite braucht.